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Nachdichtungen

Paul Verlaine

Sappho

Gepeinigt von vergeblichem Verlangen,
Die Augen hohl, die Brüste steil, so kreist
Sappho am Strand, ein wildes Tier, gefangen.

Sie denkt an Phaon, der den Schwur vergaß,
Wie ihrer Tränen Fluß. Mit Fäusten reißt
Sie aus der Haare ungeheures Maß.

Und dann befallen sie, wie Geierklauen,
Gewissensbisse, schwillt Erinnerung
An ihre Lieder, ihren Ruhm, der jung
Erglänzte, an die schlafenden Jungfrauen:

Und hier nun, daß die lange Qual sie lasse,
Stürzt sie ins Meer sich hin, das Moira heißt,
Während am Himmel kalt und starr aufgleißt,
Der die Verlassnen rächt, der Mond, der blasse.

 

Paul Verlaine: Amies - 6 sonnetes
Nr. 6
  -  Original.