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Anthropozän
Aus dem Seuchenbatt verschoben
Corona und Anthropozän. Textanfrage. Anthropozän? Wörter, nicht Begriffe, sind mein Ding. Aber ja doch, gerne. Von wo soll ich schauen? Vorüberlegungen zu einem Standpunkt. (Na ja, gehört vielleicht nicht hier her.)
Was ist Natur? Die Idee einer Gesamtheit allen Lebens auf der Erde, Bakterien und Blauwale? Und was ist Kultur? Die Sitten der Menschen, ihr Verhalten, ihre Hervorbringungen, alles Erdachte und Gemachte? Das ist nicht klar: Manche reden vom Wetter als Natur, andere nennen den Krieg nicht Kultur, sondern Natur, Schlachtordnungen dann aber Kriegskultur. Und es gibt ein Drittes, das Unbelebte, den Stein, den Planeten, das Haus. Viele Tiere bauen ein Haus, manchen Schnecken ist es Natur. Da uns Menschen niemand, der nicht Mensch ist, seine Sicht der Dinge mitteilt, haben wir es leicht. Der Planet brachte Leben hervor, aus der Natur entstand der Mensch, der schuf Kultur, seine Welt, die die Natur zurückdrängt und selbst wieder Menschen formt. Nat- und Kult-, die beiden Ur, da kommen wir her. Natur heißt, den Zahnschmerz fühlen. Kultur ist unsere Brille, den Stein zu betrachten. Und weil uns das leicht fällt, denken wir, wir erfassten auch die Natur. Naturbetrachtung müsste aber Selbstreflexion sein und ist es fast nie. Wir fürchten das auch, wollen Mücken und Zecken draußen halten und keinen Schimmel im Hirn. Wir, die Menschengesamtzahl, fast acht Milliarden. Als ich geboren wurde, waren wir weniger, kaum die Hälfte. Die Natur hinterlässt Spuren am Stein, Schichten von Muschelkalk, und auch die Menschen tun es, verändern die Oberfläche des Planeten durch Rodung und Asphalt, lagern Uran und Kunststoffe ab. Land zu verbrauchen ist unsere Natur, werden wohl die sagen, die auch den Krieg für die Natur des Menschen halten, wie wir es tun, ist unsere Kultur.
Die Kultur wirkt auf die Natur, z.B. das Sitzen auf Darm und Wirbelsäule, die Natur auf das Unbelebte, trägt es ab, lagert sich an. Um 1873 schrieb Antonio Stoppani vom 'Anthropozoikum', dem Zeitalter der Prägung des Planeten durch den Menschen, durch die menschliche Kultur. Wir verändern den Stein, während wir ihn betrachten, z.B. durch Säuren im Schweiß an den Händen - aber wir hätten ihn nicht in die Hand nehmen müssen. Nicht nur unsere Kultur, auch unsere Natur können wir verändern, vom künstlichen Kniegelenk bis zur Sitte, nicht auszuspucken. Natur ändert sich laufend, Evolution durch Mutationen, Anpassung und Verdrängung durch Veränderungen der Umgebung, Kultur ist noch flüchtiger und alles ritzt und schleift den Stein. Das Klima z.B. ist weder Kultur noch Natur, aber von beiden beeinflusst und es wirkt selbst wieder auf beide ein. Bilder des Planten von außen zeigen, wie dünn die Atmosphärenschicht tatsächlich ist. Schon auf dem Mount Everest geht uns fast die Luft aus. Die Atmosphäre ist das flüchtige Unbelebte, anders als der stabile Planet, schon immer gestaltet von der Natur durch atmende Bäume und verwesende Kadaver. Hier geht es nicht um Spuren, sondern um Wandel. Das Mittel der Kultur, die Atmosphäre zu beeinflussen, ist die Einwirkung auf die Natur. Oder neuerdings die Technik, CO2-Filter, Chemie. Ist Technik, wie Kunst, Imitation, Weiterentwicklung und Umgang mit Natur, ist nur das Wie, Wann, Wo und Wieviel der Technik Kultur? Mir scheint, wir wissen das nicht, weil wir uns nicht selbst sehen können, außer als Zahl. Aber wir vermuten heute mit guten Gründen (etwa der notwendigen Wissensweitergabe) und nehmen die Technik ganz zur Kultur - die so unmittelbar auf das Klima einwirken könnte. Ließen wir das Auto und die Massentierhaltung sein, könnten wir den Trend zur Erwärmung bremsen.
Dahin muss ich also, dass wir nicht nur das Unbelebte, die Natur und die Kultur bedenken, sondern auch uns selbst, als viertes Element, dass nicht bloß die Kultur Auswirkungen auf Planet, Natur und Klima hat, dass wir, als Menschen, unsere Kultur auch formen und umgestalten können. Sätze wie "Wettkampf ist unsere Natur" und "Autofahren ist unsere Kultur" sind nur in der Vergangenheitsform vielleicht richtig, wie es weitergeht, entscheiden wir. Menschen sind mehr als die Summe ihrer Teile und niemand ist jemals tatsächlich eine Zahl, auch nicht mit Maske.
[10.11.2020]