hor.de | Gedichtsammlung | Maria Luise Weissmann
Verlornes Ithaka
Die Frau der Gegenwart entstammt einem Geschlecht, das eine unbekannte Vergangenheit hat. Es ist da, nicht wie eine neue Generation da zu sein pflegte, abhängig noch in der Verneinung der früheren, vorgeschoben wie eine Stufe, die mit der Hälfte ihres Gewichtes auf der Grundlage des Aufbaus ruht, - es ist da mit dem plötzlichen Dasein einer Erscheinung, traditionslos wie das Genie und ohne Gewähr für die Zukunft.
Fragwürdig noch für die Gegenwart, dieses Geschlecht, in der beispiellosen Spaltung, mit der die Natur hier vorgegangen ist. Sie hat die eine Hälfte seiner Abkömmlinge auf Kosten der anderen ernährt. Nie ist - jenseits des äußern Zwanges politischer und sozialer Machtverhältnisse - die Spannweite des Menschlichen umfassender gewesen, nie entfernter die geistigen Pole bei einer solchen Nachbarlichkeit im Raum. Frühere Generationen hatten einen gewissen Durchschnitts-Standard sowohl des Geistes als der Konvention; mindestens innerhalb der einzelnen Kaste. Die heutige ist ohne eine ähnliche Gemeinsamkeit; verwandte Lebensbedingungen erzeugen Geschöpfe konträrster Veranlagung und nur die Gesetze der Mode und die Demokratie der Lebensformen verhelfen äußerlich dem Begriff der Generation zu einiger Geltung. Es bedarf keines Beweises dafür, daß das Geschehene, von dem hier die Rede sein soll, daß Kampf und Entscheidung nur über das eine Lager verhängt sind. Das andere hat seine Zelte abgebrochen und führt ein Nomadenleben der Nützlichkeit, wo aller Entschluß, Verweilen und Aufbruch, von dem Ertrag der Weide bestimmt sind. Das vollzieht sich in der Anonymität kleinbürgerlichen Daseins genau wie in dem der Öffentlichkeit verfolgbaren Leben. Der männliche Partner hat hier die Gefährtin, deren Rivalität im Erfolg ihn anspornt, wenn nicht ihr Besitz und ihre Ansprüche ihm die Betätigung seines eignen Erfolges sind. Gemeinsam wie die Ablehnung anderer Vertbegriffe ist beiden das Ideal der "good time"; - Europa hält sie ihnen bereit.
Der Verantwortungslosigkeit der einen Seite steht gegenüber die fast unmäßige Belastung der anderen. Hier ringt die Frau als Geschöpf dieser jungen und traditionslosen Generation um Orientierung, oder, nach ihrer Begabung, um die Gestaltung ihres neuen, noch unverarbeiteten Bewußtseins.
Der Mann als Schöpfer der geistigen Hierarchie hatte die Frau am Pol des Positiven angesiedelt. Wenn er als "Frauenverächter" in ihr eine Verneinung des Geistigen sah, was häufig auf der Grundlage persönlichen Ressentiments beruhte, blieb sie ihm doch das in seiner Sinnenhaftigkeit gesichert beruhende, mindestens für sich selbst eindeutige Geschöpf. Auch die Perversität einer Salome ist im Grund unkompliziert.
Der Mann ohne Zynismus wandte den Begriff des Positiven umfassender an. Er schuf Penelope, um die Schrecken der Odyssee zu bestehn. Er setzte eine Insel der Heimkehr als Ziel in die Unendlichkeit seiner Irrfahrt. Er suchte den Stützpunkt für seine Wege ins Ungewisse und er versicherte sich seiner in der jüngeren und kindlichstandhaften Seele Penelopes.
Die Frau in eben dieser Kindlichkeit ihres Geistes und der Mütterlichkeit ihres Herzens hat diese Rolle durch unermeßliche Zeiten festgehalten. Festgehalten ohne Willen und Bewußtsein: die geistige Überlegenheit einzelner fügte sich, mindestens nach dem Grundsatz der Ausnahme, die eine Regel bestätigt, widerspruchslos dem Mann in seinen Mythos über die geistige Gebundenheit der Frau. Vielleicht sind im Mittelalter einige von ihnen als Hexen verbrannt worden, weil diese Bindung in ihnen brüchig geworden war und die Freizügigkeit ihres Geistes das Un-Heimliche ihrer Existenz nach außen fühlbar machte. Die geistige Kraft der Frau war beschränkt auf das Erlebnis der Religion und wurde damit auf der erwünschten positiven Grundlage festgehalten. Der Mann erhielt sie sich, Verführerin, Trösterin von der Not seines Kampfes, gesichert noch vor ihren eignen Ansprüchen durch die Betonung und das Gewicht der seinen. Noch nach dem Urteil einer jüngsten Vergangenheit ruhten Wert und Bedeutung der Frau in ihrer Übereinstimmung mit den Funktionen der Gattin, Hausfrau und Mutter. Künstlerische Kraft, die nicht aus einem in diesem Sinne positiven Grund schöpfte, fand keine Möglichkeit der Auswirkung. Die Droste rang sich zu Tod im Zwiespalt mit ihrer Glaubensangst, ständischem Vorurteil und dem Freiheitsdrang ihres einsamen und unbändigen Geistes.
Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts war der Damm zerbröckelt, stieg Flut um Ithaka: der Mann besaß nicht mehr die Kraft ihrem Einbruch Widerstand zu leisten. Der Schrecken der Weite lag über den Wassern: die Frau wurde der kleinen Insel gewahr, die sie trug. Eine jahrhundertalte Fiktion des Gesicherten, des Gleichgewichtes zerbrach. Die Frau stand dem Einbruch des Negativen in ihre Welt gegenüber. Der Krieg legte schonungslos die Tragik alles Menschlichen bloß, die unversöhnlich blieb. Die Konvention verlor vor ihr den Rest ihrer Gültigkeit, die Frau das Vorrecht ihrer Geltung durch sie. Die Nivellierung schwand: es zeigte sich die Spaltung der Generation.
Der größere Teil entschied sich vor der Erkenntnis der Künstlichkeit seines vergangenen Lebens für die Zuchtlosigkeit seines künftigen. Er zeigte sich dumm, begehrlich und hemmungslos, noch in der Witterung geistiger Werte. Daß er es ohne Maske war, bleibt sein Verdienst, wenn man will. Die Frau dieser Seite ist die Ergänzung des männlichen Partners, jener Gefährten Odysseus', die Kirke verwandelt hat.
Die Frau der andern Seite hat die Einbeziehung in das Fragwürdige, das Problematische alles Menschlichen auf sich genommen mit Anspruch und Haltung der Ebenbürtigen. Es ist nun endlich ihr Recht dabei zu sein. Sie hat sich in kürzester Zeit die wissenschaftliche, technische und künstlerische Grundlage erarbeitet. Sie umschließt in ihrer Gesamtheit jede Äußerung menschlicher Tätigkeit, nicht so sicher basiert wie die des Mannes, tastender noch als aggressiv, aber mit aller Rückwirkung auf die Freiheit ihres geistigen Blickes. Mit dieser Freiheit des geistigen Blickes, zum ersten Male der Sachlichkeit fähig, steht sie dem Leben und sich selbst gegenüber.
Es ist nicht nötig daß das Leben dieser Frau sich von dem früherer Generationen nach außen hin wesentlich unterscheide. Der Vorgang ihrer Verwandlung ist zunächst ein innerlicher; seine äußeren Erscheinungsformen müssen nicht einmal Gradunterschiede dieser Wandlung bedeuten. Die im Berufe stehende Frau muß ihr nicht tiefer unterworfen sein als jene, deren Pflichtenkreis im Häuslichen beruht. Und wie hier eine zu starke Belastung der Arbeitskraft, der notwendig mechanisch gewordene Ablauf eines zu großen Maßes täglicher Pflichten die Frau abstumpft und blicklos für die Weite macht, fehlt unter den Ausübenden der neuzeitlichen Frauenberufe nicht die große Schar derjenigen, die, rasch verbraucht, der Last der Anstrengung erliegt und ohne Verbundenheit und Beziehung zum Allgemeinen die tägliche Fron zu Ende lebt. Die "neue" Frau, wenn wir mit einiger Einseitigkeit für die Folge jene darunter begreifen wollen, die sich durch Widerstandskraft, Begabung oder Gunst der äußeren Lage geistig lebensfähig erhält, diese Frau also kann, an keine Berufsschicht gebunden, als Stenotypistin wie als Künstlerin tätig sein. Sie kann auch ganz ohne Beruf existieren - das Gegenteil wäre der schlimmste Beweis gegen sie. Ausschlaggebend ist allein das verwandelte Gefühl, aus dem sie lebt. Es ist das eines befreiten Körpers und einer offenen Seele.
Der befreite Körper der Frau ermißt wie der des Mannes im Sport seine äußersten Möglichkeiten. Man soll die Bedeutung des Sportes nicht unterschätzen. Er verdirbt nur den niederen Menschen. Der höhere gewinnt aus den Gesetzen seiner Körperlichkeit Erfahrung der Seele. Die Beherrschung des Physischen wird ihm Erkenntnis metaphysischer Zusammenhänge. Die Freude der Frau an der Bewegung, an der bewußten Hingabe des Körpers an Licht und Luft, Sonne und Weite hat ihre letzten Ausläufer in der Mode. Es geht nicht an, sie einseitig erotischer Motive zu verdächtigen.
Die grundsätzliche seelische Wandlung der Frau ist die zur innern Ehrlichkeit. Sie ergab sich als wertvollster Gewinn aus dem Zusammenbruch jener vom Manne gehüteten Konvention. Die neue Frau nährt ihr Persönlichkeitsbewußtsein weder aus ihrer sexuellen Unberührtheit noch ihrer Verständnislosigkeit Problemen von allgemeinmenschlicher Bedeutung gegenüber. Sie wünscht nicht das öffentliche Vorrecht einer anderen Einschätzung als der nach dem Anstand ihrer Gesinnung, nach Arbeitsleistung oder künstlerischer Begabung, jene Beurteilung also, wie sie dem Mann zuteil wird. Freiheit oder Verzicht im Geschlechtlichen haben nur eine persönliche Bedeutung.
Des Gewichtes dieser Bedeutung ist, zuweilen im Mißbrauch der neuen Freiheit, die Frau sich bewußt geworden. Die Kraft des Mannes zum erotischen Erlebnis ist vielfältiger als die der Frau. So birgt auch der Flakesche Begriff des "gentleman" für sie noch Gefahr. Maßgebend ist er vor allem für die Form ihrer Beziehung zum Mann. Die Frau von heute kämpft ritterlicher und offener; sie spielt nicht mehr mit dem Gefühl des Mannes und nicht mit ihrem eigenen. Sie achtet Gefühle höher, seitdem sie weniger zu ihnen verpflichtet ist. Ihre wirtschaftliche Selbständigkeit erleichtert die Unabhängigkeit ihrer Entscheidung. Ihre menschliche Erfahrung weiß um das Protëische alles Gefühls, um die Fragwürdigkeit seiner Dauer; sie erblickt in ihm keine Lebensversicherung mehr. Das ist weniger frivol als vielmehr ein Verzicht auf manche Bequemlichkeit; daß die Frau für sich selbst unzuverlässiger wurde dabei, eine der Gefahren ihrer geistigen Entwicklung. Treue ist eine konservierte Liebe. Der Ehrgeiz, sie immer wieder neu erwecken zu wollen, eine noble und seltene Passion, die sich der Mann zumeist versagt.
Im gleichen Maß, in dem das Gefühl der Frau sich von sozialen und familiären Funktionen emanzipierte, wurde es ziellos und ungebunden. Die Leidenschaft der Frau zur Frau, seit Sappho trächtig mit Untergang, bricht zerstörerisch aus ihrem neuen tragischen Lebensgefühl.
Wie zu allen Zeiten ist die künstlerische Produktion verdichtete Äußerung eines veränderten Bewußtseins. Die künstlerische Gestaltungskraft der Frau wirkte am stärksten auf dem ihr nächsten Gebiet des Tanzes und des Theaters. Ihre Befreiung von der Gebundenheit der Konvention brachte auch die des Tanzes von der Tradition des Balletts. Sie hat den Tanz zur Höhe seines Ursprungs zurückgeführt, zur Ausdrucksform des Kultischen, die er war. Heute ist dieser Kultus entgöttlicht; Zelebration des Menschlichen, seiner seelischen und körperlichen Schwingung in der Unendlichkeit von Zeit und Raum. Auch die Bühne hat sich der Weite geöffnet: der Begriff der Rolle hat von seiner Starrheit verloren, das Persönliche, weniger abgegrenzt, weniger hart umrissen, erscheint nicht mehr im gleichen Maße isoliert, auf sich gestellt, als vielmehr Teil, Variation des allgemeinen Schicksals "Mensch". Die Frau hat ihren Anteil an dieser Lockerung: sie spielt den Menschen nicht allein im Kampf mit diesem Schicksal, sie spielt ihn darüber hinaus mit dem Bewußtsein der Vergeblichkeit dieses Kampfes, mit Ironie und Pathos, Zärtlichkeit und Trauer dessen, der sich selbst zu sehen lernte. Es war der Frau von heute vorbehalten, nach Hamlet zu greifen, dieser am weitesten zersetzten und einsamsten Gestalt.
Auf dem Gebiet der Kunst, wo das Motorische des Körperlichen geringere Angriffswirkung auf das Seelische hat, in Dichtung, Malerei und Plastik sind Zusammenhänge weniger deutlich. Die Frau ringt wie der Mann um die Gültigkeit ihrer Leistung - ihr eigener Anspruch wie jener der Allgemeinheit steht nicht hinter der Forderung an die Arbeit des Mannes zurück. Strindberg konnte sich noch ereifern über den durch Jahrhunderte "vom Mann gedeckten Tisch", an dem schmarotzend die Frau sich gütlich tue. Heute sind diese Tische abgegessen. Die Selbständigkeit des Lebenswerkes der Bedeutendsten steht außerhalb eines Zweifels. (Auch dem Mann glückt der Schritt ins Unbegangene nur im Einzelnen, Auserwählten.)
Es ging nicht an, die Frau, einen Menschen also, der den äußersten Nachweis seiner Reife erbracht hatte, von irgendeinem Versuch zur Gestaltung menschlicher Verhältnisse auszuschließen. Es ging nicht an - und es wird nirgends auf die Dauer angehen - die Frau von den Funktionen des Staates fernzuhalten. Trotzdem war - außerhalb Rußlands - der Einbruch der Frau in die Politik unschöpferisch. Das Wahlrecht ist ihr größter Erfolg geblieben. Im übrigen hat sie sich den Parteien des Mannes eingegliedert. Sie leistet gute und gewissenhafte Verwaltungsarbeit - ihr Einfluß auf die Gesetzgebung ist bis heute in keiner Weise sichtbar geworden. Sie fand nicht den Mut, der Staatsraison des Mannes ihren Willen zur Menschlichkeit entgegen zu setzen. Sie war bemüht, für sich den Ausgleich dieses Konfliktes in der Übernahme eines ungeheuern Maßes von sozialer Arbeit zu finden.
Der Begriff der Mütterlichkeit hat durch diese soziale Tätigkeit eine ungemeine Erweiterung erfahren. Gleichzeitig jedoch Beschränkung seiner früheren Ausschließlichkeit: die Frau ist heute Mutter neben ihrer beruflichen Tätigkeit; zumindest nicht mehr unter Verzicht auf Ansprüche ihrer Persönlichkeit. Das Kind dieser Zeit ist einbezogen in Gewinn und Verlust ihrer geistigen Wandlung.
Die Frau der Gegenwart ist die Gefährtin des Mannes, seit sich ihr Geist der männlichen Einsicht geöffnet hat: jener Erkenntnis vom "Gleichnis alles Vergänglichen". Mit dieser Erkenntnis ist ihr der Boden Ithakas versunken; sie folgt Odysseus in die Unendlichkeit seiner Fahrt. Ihr Körper hat Sturm erfahren, ihr Geist die Weite geatmet: es gibt keine Rückkehr für sie.