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Totenreden, Totengespräch
Wir fordern Demokratie für die Toten.
G. K. Chesterton
Nein, ich meine nicht das Geschwätz des Herrn B., der im Leitmedium S. eine Feindin tritt. Auch um den Vorschlag, die Totenruhe zu verkürzen und Friedhofsflächen zu Bauland umzuwidmen, geht es mir nicht. Nicht um die Nöte der Witwen der Gefallenen am Hindukusch. Heute nicht. Ich sah einen Grabstein, darauf stand: Erst wenn wir die Toten vergessen, sterben sie. Eine Mutter erzählte ihrer Tochter, dass man nicht wirklich tot ist, wenn die Menschen, die einen lieben, noch leben. Da fragte das Kind: Kommen sie dann später in den Himmel?
Wohin sie auch gehen, solange ich lebe, geh ich nicht mit. Das ist es. Seit Jahren beantworte ich Fragen zum Totengedenken, kleine Fragen nach Gepflogenheiten. Soll ich den Toten in der Grabrede duzen?, zum Beispiel. Die Antworten gelten für die eigene Kultur. In Japan wüsste ich nichts und auch hier kommt manches in Bewegung, ich habe mehr Fragen, als ich beantworten kann. Alle Zeit stoße ich auf die Annahme, die die Inschrift ausspricht: dass es um die Toten ginge, um ihr Recht auf Gedenken, darum, dass wir die Toten nicht verlassen. Aber das ist nicht wahr: die Toten haben uns verlassen.
Gleich, wie wir der Toten gedenken, wie wir sie ehren und erinnern, wie wir Gräber und Anzeigen gestalten, wie wir feiern und Nachlässe verwalten - es dient uns, meint uns, spricht zu uns, nicht zu den Toten. Die Toten sind tot, ihnen hilft gar nichts, nichts schadet ihnen, was wir auch tun. Mit den Toten kann man nicht redlich reden, weder gegen die Autobahn über die Gräber, noch für oder gegen Denkmale, noch über Renten streiten in ihrem Namen. Was wir nach ihnen tun, tun wir auch ohne sie: für uns.
Schafften wir alle Leichen in Fabriken, darin sie beseitigt werden, für immer verschwinden, täte das den Toten nicht weh, aber die Lebenden wehte Verzweiflung an, steigerte die Schmerzen der Verluste, erstickte den Glauben an den eigenen Wert unter den anderen. Wer in der Erinnerungskultur arbeitet, weiß, dass er es für die Lebenden tut, die, die sein Honorar entrichten. Dabei ist Herkommen zu beachten, Ansprüche anerkannter Sinnstifter (etwa der Religionen), ästhetische Erwartungen der Angehörigen, ihr Geldbeutel. Die Toten sagen zu all dem nichts.
Wenn es aber um Politik geht, um Kriege, um die Geschichte, die Pfründe der Sinnstifter oder um die Einkommen der Totengräber, kommen die Toten ins Spiel. Unfähig, für sich selbst zu sprechen, bedürfen sie der Vertreter, in ihrem Namen zu fordern oder zu verdammen oder gar den Hinterbliebenen Vorwürfe zu machen und Vorschriften. Im Grab würden sie sich umdrehen, wenn sie denn wüssten, Tränen weinten sie vom Himmel, neulich las ich, ein Raunen ginge durchs Schattenreich, und wieder: Das schulden wir ihnen. Aber nein - was immer wir den Toten schulden, wir können es ihnen nicht geben, nur wieder uns.
Jede seriöse Debatte des Totengedenkens hat die Lebenden im Blick, dreht sich um sie. Man lausche einem Gespräch der Bestatter an ihrem Stammtisch, und man weiß, wie es geht. Schlägt man das Feuilleton auf, folgt einer Aussprache im Parlament, ertrinkt man im Schund. Zwar ist es möglich, die Nöte der Lebenden in Sätzen zu vertreten, die wie im Namen der Toten gesprochen werden, Theater!, doch lässt man sich so auf Gespräche mit Menschen ein, die es wörtlich nehmen. In den Mund der Toten gelegt, verwest die Wahrheit zur Lüge. Es ist ein uneigentliches Sprechen, eines das seine Gründe aus Prinzip verschweigt, aus Betrugswillen seine Gegenstände in ein virtuelles Reich verlegt. Ein Höhepunkt solcher Rede ist der Ruf an die Soldaten, für die Gefallenen ihr Leben zu wagen, das eigene Leben den Toten hinzugeben. Hinterherzuwerfen. Bis ins Kleinste wirkt es sodann, als schlechtes Gewissen, zum Beispiel, das man zu haben habe, wenn man am Totensonntag den Blumenhandel nicht stützt.
Was schulden wir den Opfern des Holocausts? Nichts. Uns schulden wir eine Welt ohne Völkermord und Menschenhatz, uns und unseren Kindern. An unseren Ahnen können wir nichts tun. Von ihnen lernen wir, aus ihren Fehlern, aus dem, was sie gut gemacht, was dann geschah. Sie haben nichts davon, wenn wir sie ehren oder verurteilen, und wir haben nichts davon, wenn es uns nichts lehrt, allenfalls Unterhaltung - Das war so eine schöne Feier, meinte eine ganz schwarze Dame, da möchte man gleich noch einmal hin.
Soweit im Allgemeinen. Ich habe in meiner Jugend (Soziales Jahr) auf einer Pflegestation für Sterbende (betont keinem Hospiz) erfahren, was die Menschen dort vor dem Tod bewegte: Versöhnung. Bin ich mit denen, denen ich begegnet bin, im Reinen? Meist Kindheits- und Jugenderinnerungen, als gelte das Erwachsenenleben, die Zeit der Sachzwänge, nichts mehr. Es war unwichtig, ob man richtig oder falsch gehandelt hatte, rechtens oder wider ein Verbot, auf das Ergebnis kam es an, auf das Glück oder Unglück der anderen. Waren diese Anderen, was häufig vorkam, verstorben, nicht mehr erreichbar, stimmte das traurig. Einem Kameraden aus der Grundschule nicht mehr sagen zu können, dass man bereut, ihn gehänselt zu haben, dass es Unsicherheit war und Großtun, man ihn bewundert hat, das tut weh. Es gab Pflegerinnen auf der Station, die in diesen Fällen trösten, man sehe sich ja im Jenseits wieder, könne sich nach dem Tode immer noch versöhnen. Das hat nie geholfen. Das macht die Verzweiflung umso größer. Ich glaube an das ewige Leben, ich bin Christ, sagte einer dazu, aber ich spüre, dass das falsch ist. Nur die Lebenden bedanken sich, nur Lebende vergeben. Seit damals denke ich, die eingebildeten Toten sagen alle nur eins: Tröstet euch. Aber sie sagen nicht, wie.
Das ist unsere Aufgabe, die der Lebenden an den Lebenden. Wer da im Namen der Toten spricht, steht bald unter Leuten, die im Namen des Todes sprechen. Und deren Botschaft lautet stets: Sterbt! Man muss ihre Rede in die Welt der Lebenden übersetzen. Besser wäre, ihnen nicht zuzuhören. Will etwa eine Partei ein Denkmal errichten, und wir fragen uns, warum, sind alle Sätze zu prüfen, die sie über sich und heute sagen, die aber, die von den Rechten der Toten reden, von unsern Schulden und deren Bedürfnissen, prüfen wir nicht, sondern stattdessen den, der sie spricht. Das wäre ein guter Fortschritt im Gedenkgespräch.