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Surfen mach Spaß?
- Das Internet ist langweilig. E-Mail ist besser als Fax, Chat schlechter als Telefon, das Web besser als der Neckermannkatalog - aber nirgends ein Abenteuer. Auffällig nur, was plötzlich alles verboten werden soll. Da und dort also ist unser Geld bislang geblieben. Und unsere Zeit.
- Das Internet ist verrucht. Nazis propagieren den Tod, Selbstmörder stiften sich gegenseitig an, die Musik dazu ist geklaut und zur Entspannung gibt's Moorhuhn und Porno. Immerhin ein kleines Abenteuer: fiese Viren drohen die Pornos wieder zu löschen. I love you. Und ein Grinsen. Aber das reicht nicht Schüler abzuschrecken, die doch einen Instant-Aufsatz über Jakob, den Lügner, suchen.
- Das Internet ist teuer. Wer bei Neckermann online stöbert, hat den Katalog nicht gratis. Man braucht einen Computer und zahlt Eintritt an den Netzbetreiber. Der den Computer domptiert, heißt Diplominformatiker und hängt eine Null dran. Dem Schreinermeister rennen die Kunden den Monitor ein? Ach was, zwei Anfragen im Monat, wenn überhaupt.
- Das Internet verwirrt. Privatlehrer verkaufen Findekurse. Überall gibt's Navigation, Orientierung im Angebot, Kataloge, wo nach euphoro-offizöser Doktrin rhizomatische Vernetzung von unten herrschen sollte, Volltextsuchfunktionen und relationale Datenbanken, die Ordnung von Gestern. Kartografiert wird, was das Zeug hält, als gelte es Meere zu vermessen. So tönt es dann auch: es wird gesurft, Orte werden aufgesucht, dorten verweilt man, immerhin, denn um Zeit geht es, um unsere Zeit.
- Das Internet ist langsam. Auf der Datenautobahn sieht man wirklich die Datenautos fahr'n. Hin und her. Ein in der Not gefundenes Softwaretool, das dann auch tat, vergoldet den Glauben eines halben Jahres als Argument: das Internet ist nützlich. Staukultur. Man wartet gemeinsam und vertreibt sich die Zeit mit kleinen Geschichten, Liedern und Witzen, den Fotos aus der Brieftasche (meine Haus, meine Yacht, meine Schnäppchen), mit Visitenkarten. Warten worauf?
- Das Internet macht einsam. Ja wirklich? Hunderttausend neue Freunde lernt man kennen. Gleichgesinnte zu den entlegensten Nischenthemen finden zueinander. Dumm nur, dass ich die Menschen, die meine neuen Bekannten nicht mögen, ebenfalls nicht kenne. All das Herzblut, dass das Herz nie erreicht. Am Bildschirm hockt jeder letztlich allein. Und da erreichen ihn verlockende Botschaften, versuchende, erschreckende, da muss man einfach: Stellung beziehen.
- Das Internet ist der eine Kamm, über den sich alles scheren lässt. Es ist selbst das Gute. Das bloße Zustandekommen der Verbindung übertrifft jedes Gespräch. Davon ist dann auch die Rede. Die Verbindung darf nicht unterbrochen werden; Arbeitsplätze stehen auf dem Spiel. Worüber wird morgen gesprochen?
- Das Internet ist gefährlich. Alle Computer vernetzt? Das ist der Traum der Spione. Zugriff auf jeden Karteikasten. Staatsfeinde könnten so bedrohlich erscheinen, dass sie besser dingfest wären. Alpträume sickern über harmlose Kabel ein und niemand, denkt der Poster, weiß wer ich bin.
- Das Internet ist flüchtig, weil digitale Daten stets flüchtig sind. Abhängig von einem Lesegerät, existieren sie für die Dauer einer Mode. Wie die Städte der Gegenwart werden sie späteren Archäologen nichts hinterlassen. Wie das Fernsehen: ein paar Generationen aus der Geschichte genommen, da grad nur wenige wach gebraucht wurden.
- Das Internet ist überholt. Die Comic-Version einer Idee aus den Sechzigern des 20. Jahrhunderts. Einzig der Hyperlink hat Kraft. Der wird verboten. Und missbraucht in Hypertext, Hypermedia, die da meinen, er wirke auch in kleinen Geweben. Das aber hatten wir schon.
- Das Internet müllt uns zu. Werbebanner in Werbe-PopUps zu Werbeseiten. Spam, Kettenbriefe, Portscanner. Hausfrauen zeigen sich nackt, Gedichte werden "publiziert". Lernen Sie finden, was Sie suchen! Prima. Was suche ich denn? Wie konfiguriere ich meinen Computer optimal zur Nutzung des Internet? Na klasse.
- Das Internet lügt? Nein, natürlich nicht. Kupferkabel sind so unschuldig wie Goldkontakte. Ohnehin ist vieles auf Sand gebaut. Die Umformulierungen der Agenturmeldungen in den Tageszeitungen sind nicht "wahrer" als die Nachrichten in Web und Newslettern. Die Gerüchte in Chat und Newsgroup nicht schriller als die in "der Firma". Aber
- über das Internet wird viel gelogen. z.B. dass gemeine Hacker jederzeit Atomraketen starten könnten. Oder dass es a) eine "virtuelle" Nebenwelt und b) als solche ein Raum sei. Oder viele Räume. Oder dass es politisch Verfolgten ungefährliche Publikationschancen böte. Dass "virtuelle" Foren die Athener Agora ersetzten (von Neckermann bis Uno-Vollversammlung), oder dass es "die Zukunft sei".
- Das Internet ist langweilig. Internetjobs etwa sind so spannend, wie solche bei Schrauben-Meier oder im Versicherungsaußendienst. Websurfen ist bloßer Konsum - und wen nicht schon Fax-Clubs fasziniert haben, der hat wohl auch bald von Facebook die Nase voll. Die Musik spielt anderswo. Auf der Straße zum Beispiel. Wer nichts anderes zu tun hat, daddelt vielleicht noch eine Weile. Aber dann?