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Mehr als die Rechtschreibreform

Zur Frankfurter Buchmesse 2003 protestierten bekannte Schriftsteller aus mehreren Ländern Europas gegen den Brauch, Übersetzungen in der 1996 reformierten deutschen Rechtschreibung zu drucken. Gemeinsam schlugen sie ausländischen Kollegen vor, die Verlage zu boykottieren. Das ist ihr gutes Recht.

Der Appell selbst darf so nicht stehen bleiben. Darin führen die Autoren u.a. Walter Benjamin, Sigmund Freud und Paul Celan als Zeugen dafür auf, dass sich die "herkömmliche Rechtschreibung" "das ganze zwanzigste Jahrhundert hindurch bewährt hat." Ich verstehe nicht, wie man zu einem solchen Gedanken kommt.

Ihnen selbst, so fahren sie fort, "erschwert" die Neuregelung "den präzisen sprachlichen Ausdruck." Auch das kann ich nicht nachvollziehen. Für die Romane von Günter Grass ist die Orthografie so nachrangig wie für meine Gedichte.

Zuletzt werden ausländische Autoren, die oft keinen Einblick in den deutschen Orthografiestreit haben, gebeten, sich gegenüber ihren deutschen Verlegern auf die Seite der Alten zu schlagen. Die Leser würden es ihnen danken.

Das tun die aber nicht. Erstens prüft niemand vor dem Kauf eines Romans dessen Rechtschreibung. Zweitens lesen in Deutschland viele junge Menschen. Drittens empfinden die meisten Familien mit schulpflichtigen Kindern eine Rücknahme der Reform als Drohung.

 

"Sie müssen mir nicht anbieten, daß ich mißverstanden worden bin,
denn das kann ich als Schriftsteller nicht ertragen.
"

Martin Walser

Die deutschen Schriftsteller waren zur Mitwirkung aufgerufen, lange bevor die Reform beschlossen wurde. Sie haben das wieder und wieder ignoriert. Sie werden immer noch gebraucht. Da liegt es nahe, den heutigen Protest so zu verstehen: Die Praxis der Orthografie ist diesen Autoren tatsächlich gleichgültig, das medienwirksame Thema nicht.

Sie haben nie verstanden, dass eine Reform der Rechtschreibung nicht älteren Menschen mit langjähriger Schreibpraxis zugute kommen soll und kann. Wer Deutsch als Fremdsprache lernt, erfährt anderes. Wer sich um die Zukunft der deutschen Sprache sorgt, auch. Ebenso, wer Software zur Grammatikprüfung schreibt.

Künstlerisch ist der Aufruf gar eine Bankrotterklärung. Als hätten sich Sprache und Schrift je ohne Widerstand, ohne Eigensinn gegeben. Sollen sie Beton nehmen, da ist es egal, was man daraus macht.

Stattdessen berufen sich die Autoren auf einige Verlage und auf "große" Mehrheiten, die nirgends beweisbar sind, auch nicht die der "deutschsprachigen Intellektuellen." Da täuschte sie der Medienrummel der Reformgegner und die eigene Wichtigkeit.

Dass privatwirtschaftliche Macht demokratischer Befugnis vorgezogen wird, ist immerhin verständlich, wenn man selbst nichts beitragen will. Warum aber sollen ausgerechnet die "renommiertesten" Unternehmen eine Alternative zur Bürokratie sein? Bremst die Umstellung die Warenproduktion? Das ist doch längst erledigt.

Ich selbst werte die Reform der Rechtschreibung von 1996 positiver und bitte ausländische Autoren und Autorinnen, sich vor einer Einmischung in den deutschen Rechtschreibstreit unabhängig zu informieren.

Die entsetzliche Demagogie des Frankfurter Aufrufs aber bitte ich, entschieden zurückzuweisen. So etwas haben wir in diesem Format lange nicht mehr gelesen. Mögen die Rhetorikschulen sich an dem Werkstück freuen - dem Land, seinen Menschen, der Literatur und der Sprache wurde ein schlechter Dienst erwiesen.

Im manchem deutschen Feuilleton konnte sich die Autorengruppe gefeiert sehen. Im Leben ist es anders angekommen. Und da geht es nicht um die deutsche Rechtschreibung.

Ich zitiere nachfolgend den vollständigen Text des Aufrufs und schließe eine persönliche Antwort an:

 

Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen!

Seit einigen Jahren hat die deutsche Sprache zwei Orthographien. Die eine Orthographie ist die, die sich seit der Goethezeit allmählich entwickelt und das ganze zwanzigste Jahrhundert hindurch bewährt hat. Es ist die Orthographie, in der Theodor W. Adorno, Hannah Arendt, Ingeborg Bachmann, Walter Benjamin, Heinrich Böll, Elias Canetti, Paul Celan, Friedrich Dürrenmatt, Albert Einstein, Sigmund Freud, Max Frisch, Hermann Hesse, Franz Kafka, Niklas Luhmann, Thomas Mann, Robert Musil, Rainer Maria Rilke, Nelly Sachs, Arthur Schnitzler, Max Weber und Ludwig Wittgenstein geschrieben und veröffentlicht haben. Es ist die Orthographie der deutschen Sprache in Literatur, Philosophie und Wissenschaft.

Die andere Orthographie ist eine, die in staatlichem Auftrag erfunden wurde. Sie ist minderwertig und erschwert den präzisen sprachlichen Ausdruck. Gleichwohl soll sie gegen den Willen der Mehrheit der Bevölkerung auf dem Verordnungsweg durchgesetzt werden, durch ihre Einführung in Schulbüchern und amtlichen Texten.

Die große Mehrheit der deutschsprachigen Intellektuellen lehnt die staatlich verordnete Rechtschreibung ab. Eine der besten Zeitungen Deutschlands, die Frankfurter Allgemeine Zeitung, lehnt sie ab. Die renommiertesten Buchverlage (darunter Hanser, Suhrkamp, Diogenes, Piper) lehnen sie ab. Gleichzeitig aber wird den Kindern auf deutschen, österreichischen und schweizerischen Schulen beigebracht, daß die bessere Orthographie "veraltet" sei. Es gibt leider Verlage, die sich auf die Seite der Bürokratie geschlagen und sich für die "neue" Orthographie entschieden haben.

Doch selbst in diesen Verlagen beharren die deutschsprachigen Schriftsteller darauf, daß wenigstens ihre Bücher in der herkömmlichen Rechtschreibung erscheinen. Worauf sie jedoch in diesen Verlagen leider keinen Einfluß haben, ist die Orthographie der Bücher, die aus anderen Sprachen ins Deutsche übersetzt werden. Während die deutschsprachige Literatur fast ausschließlich in der angeblich "veralteten" Orthographie erscheint, wird die fremdsprachige etwa von Verlagen wie S. Fischer oder Rowohlt in der behördlich verordneten "neuen" Rechtschreibung publiziert.

Wir bitten Sie, liebe Kollegen, sich uns anzuschließen und uns zu unterstützen. Wir bitten Sie, dem Verlag gegenüber, in dem Ihr nächstes Buch auf deutsch erscheint, auf der bewährten deutschen Orthographie zu bestehen, so wie wir es tun. Ihre Leser werden es Ihnen danken.

Mit freundlichen Grüßen

Horace Engdahl, Hans Magnus Enzensberger, Georges-Arthur Goldschmidt, Günter Grass, Lars Gustafsson, Elfriede Jelinek, György Konrád, Reiner Kunze, Stanislaw Lem, Siegfried Lenz, Claudio Magris, Harry Mulisch, Adolf Muschg, Sten Nadolny, Cees Nooteboom, Patrick Süskind, Martin Walser, Christa Wolf

 

"Kollegen",

Ist es nicht schon leicht genug? Sind nicht das Material willig, die Werke zweckfrei, der Buchmarkt ein Schonraum und die Erben versorgt? Die Leser haben nichts zu danken - die verstimmt der Streit, den ihr bis in die Familien tragt.

"Renommiertest" sind eure Institutionen, "herkömmlich" eure Rechtschreibung, orthografiebedingt euer Ausdruck, dreimal ruft ihr die Mehrheit an - das merke ich mir.

 

Schriftstellerinnen, Künstler in aller Welt,

folgt nicht der Anstiftung der alten Schriftsteller Deutschlands!
Schreibt ihnen.

Lasst euch nicht für einen Kampf werben,
ohne euch Auskunft zu schaffen.
Hört beide Seiten.

Habt Vertrauen in die lebendige Literatur.

Glaubt nicht, dass deutsche Leser beim Kauf
nach der Rechtschreibung sehen.
Wir haben andere Sorgen.

Lasst euch nicht benutzen.