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Liebe Netzliteratur

"Hier ist die Karte, da ist die Straße  
Sieh hier die Biegung, sieh da das Gefäll!"  
"Gib mir die Karte, da will ich gehen.  
Nach der Karte  
Geht es sich schnell."  

Bertold Brecht   
 

Ich könnte zum Beispiel eine Liebesgeschichte erzählen. Geht es um Liebe, gehen die Worte nicht aus. Ich könnte sie aufschreiben, die Geschichte. Fällt mir ein schöner Satz ein, der nirgends passen will, merk ich mir den zur späteren Verwendung.

Ich könnte am Computer schreiben. Computer merken sich Sätze besonders gern. Sie warten in den Datenspeichern bis ihre Zeit kommt.

Ich könnte die Geschichte aber auch nicht erzählen. Ich lade euch ein, statt dessen meinen Computer zu besuchen, sage: klickt hier, klickt da, es gibt wunderschöne Sätze. Eine Liebesgeschichte soll es werden. Aber vielleicht klickt ihr euch ja einen Krimi zusammen oder eine Fahrradreparaturanleitung (es könnte nämlich ein Fahrrad vorkommen in der Geschichte).

Computer machen alles leichter. Das Leben etwa. Das Schreiben auch. Nichts muss zweimal getippt werden. Was steht, das steht und kann überall eingefügt werden. Ein Roman ist Montage. Ein Gedicht sowieso.

Ist das nicht ein wenig billig?

Ja schon. Für einen Roman braucht es einen Schriftsteller, ein paar Sätze kriegt jeder zusammen, immer wieder ein paar Sätze. Aber die Schnipsel verschiedenerweis zu verknüpfen, a href, a href, ist auch nicht nichts und mit etwas Geschick wird ein Erlebnisraum daraus. Tolles Wort, gell?

Wenn ich mir mehr Mühe gebe, sieht die Erzählung so aus:

Sie können zueinander nicht kommen. Die Flüge sind viel zu teuer, die Furcht vor der Nähe zu groß. Sie schreiben sich. Klick hier: ein Brief von ihr. Klick da: er schreib eine Karte. Sie schickt ein Foto vom Wandertag: da ist es. Oder Einblick ins Tagebuch. Wo bleibt der Erzähler? Hier: schnell ein Klick, da ist er wieder.

Wie geht es vorwärts? (Geht es vorwärts?) Mal wie es muss, mal blind nach Laune, mal sehend - fliegt er nun oder nicht?

Ich stricke ein Netz. Ich stricke und stricke. Das darf man ruhig fleißig nennen.

Ihr kommt gar nicht meinen Computer zu besuchen? Dann stell ich's ins Internet. Sie wohnt in Kairo (das klingt gut), dazu ein Link zu Kairo Online, er fliegt (fliegt nicht) mit LTU (viel Platz für product placement). Ein Bild sagt mehr als tausend Worte: so schaut er aus

Irgendwie klingt das gefährlich!? Plötzlich gehört ja aller Text zu meinem Text. Nach wie vielen Klicks ahnt man, dass man die Geschichte verlassen hat? Egal: das Web ist ein Hypertext.

Und: das Foto, noch ein Bild, jetzt noch Musik (sie pfeift). Wieso also Text?

Die Netzerzählung droht sich aufzulösen

- indem sie das ganze Web mit einbezieht;
- indem sie die Sphäre der Sprache verlässt.

(Reden wir lieber von "Internet" als von "Internetliteratur".)

Gefährlich: ein Wort sagt mehr als tausend Bilder. Was ich sehe, kann ich mir nicht mehr vorstellen.

Gefährlich: wenn meine Erzählung mit dem Web verschmilzt, dann brauche ich sie gar nicht mehr erzählen. Sie ist schon erzählt.

Webfiction, die alle Möglichkeiten des Webs ausschöpft, existiert nicht mehr. Kein Unterschied zum Surfen just for fun, irgendwo, irgendwie, irgendwann. "Der Leser wird Ko-Autor." Wieso "ko"? Der Autor kann abtreten. 'Geschichten, die das Leben schrieb' erzählt das Leben selbst am besten. Geschichten, die der Leser klickt..

Und ich? Ich erzähle keine Liebesgeschichte, liebte lieber. :-)

Netzliteratur braucht die Abgrenzung, das Zurückweisen der Ohnendlichkeiten, braucht den Willen zur Literatur und den Mut zum Verzicht. In beide Richtungen (s.o.): lieber nicht.

Ich hab mal anderes behauptet, ja ja - aber heute würd' ich mir nicht mehr über den Weg trauen...