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Die Anekdote, der Kleister
Ein Typus besonders niedriger Geschichten erzählt von einem historischen Menschen, den die meisten Hörer schon kennen, im Guten oder Argen, der in seiner Zeit etwas erfährt oder erleidet, das ihm so nicht begegnet wäre, wenn seine Zeitgenossen mit ihm vertraut gewesen wären, wie wir es heute sind - oder, und darauf will ich hinaus, nach der Auffassung des Erzählers sein sollten. Auf Kosten der irrenden Figuren geht dieser Spaß keineswegs, sondern auf unsere. Da wird zum Beispiel ein Hauslehrer von der Herrschaft gelobt, weil er vorzüglich das Französische und die Mathematik den Kindern nahezubringen weiß, nur leider verstünde er nichts von der Dichtkunst, der Herr Hölderlin. Der Sklave, der sich so ungeschickt anstellt und selbst einräumt, mit der Stallarbeit nicht vertraut zu sein, ist Platon. Und der jüdische Bettler, der sich des jungen Hitzkopfs annimmt, der in der Stadt Wien sich nicht zurechtfindet, und dafür nur Undank erntet, nimmt Anlauf zu einer sehr billigen Groteske, wenn er zu seinem Gott spricht, der solle es eben dem ganzen Volk gutschreiben, was er, der Rührige (sein(!) Name tut nichts zur Sache) für diesen Hitler getan hat. Er weiß es nicht, kann es nicht wissen, aber wir wissen, müssen es wissen, denn davon lebt die Anekdote. Wir sind nahe dran, die Ungeduld der Leute mit einem gehörlosen Alten zu verstehen, als wir erfahren, dass er doch Beethoven heißt - und wenn wir es erfahren haben, ist nichts mehr zu berichten übrig, denn der Name ist tatsächlich die ganze Nachricht, kommt also am Schluss. Daraus sollen wir fürs Leben lernen, der, den wir vielleicht missachten, könne morgen oder in tausend Jahren einer sein, nach dem Schulen und Straßen benannt sind. Das ähnelt durchaus den Sagen von Göttern auf Erdenbesuch (dort ohne die Hybris, man lese zum Vergleich noch einmal von Philemon und Baucis) oder der christlichen Botschaft, dass der Gott im Geringsten unter den Nächsten anzutreffen sei. Bleibe somit, lieber Leser, vorsichtig und stets bescheiden und achte sie alle! Sozialpropaganda. Warum nenne ich das niedrig? Weil es uns, das Publikum dieser Geschichten, erniedrigt. Nicht, weil wir mit der immer gleichen Konstruktion abgespeist werden, das trifft die Ästhetik, nicht die Moral solcher Literatur, sondern weil danach der Einzelne nur etwas gelten kann, indem er später berühmt oder berüchtigt wird oder es schon ist und wir, die Idioten, davon keine Kenntnis haben. 'Sei ohnedies gut' ist gemeint, aber 'Du bist nichts' kommt an - im besten Fall, denn schlimmer wäre: allein die gerühmte Tat gilt, die beachtete; was wir im Stillen tun, ist vor uns selbst bloß Tand, es sei denn, wir tun es einem Vergöttlichten. Dadurch gewönne das Leben, mein Leben, das unerzählte, erheblich an Unwirklichkeit, so dass hier Motiv und Form, die auf das Gegenteil zielen, notwendig scheitern. Nichts, das ich jemandem zumuten mag, der die Geschichte mir abkaufen soll.