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Alles Müll?
Ach, es ist traurig. Der Internet-Literaturwettbewerb ist vorüber und wir lesen ein wenig die Zeit. Was liest der Surfer in der Zeit? Dilbert?
Wie im vorigen Jahr macht sich allmählich Ernüchterung breit. Die Mühen der Ebene sind überwunden und doch bleiben die blauen Berge im Dunst. Wer die aktuelle Zeit aufschlägt und nach Dilbert schaut, der findet auch einen merkwürdigen Artikel unter der Überschrift "Ungebunden." Ungebunden steht sie da, und beinahe hätte man weiter geblättert, wenn nicht der Pegasus, der schlichte, aus seinem Rund geblinzelt hätte. Noch blinzelt, immer blinzelt, Papier ist ja geduldig.
Wer erwartet hatte, die Zeit würde auf den heiligen Seiten zur Literatur über den Wettbewerb berichten, pfeift jetzt gen Zimmerdecke und blickt verlegen nach irgendwo. Nein, das tut sie nicht, die Zeit. Das wäre ja, als gäbe es außer Klassik und Jazz noch Musik, unter 100.000,- DM ein Bild von Wert, eine Demokratie ohne Kompromiss. Nicht in der Zeit.
Nichts tut sich unter der Zimmerdecke. Vielleicht wabert etwas Zigarettenqualm. Man schaut sich betreten an. Schweigt. "Scheiße" ruft Anna in ihrer Freiburger WG-Küche aus. Keiner antwortet. 164 Teilnehmer, schreibt die Zeit, 164 Beiträge, "so aufregend und so banal, wie man es kennt."
In den WG-Küchen kocht das Kaffeewasser. Den Seelen ist langweilig. Man fühlt sich leer, ausgebrannt, selbst der Computer spuckt nichts aus, keine tröstend-hitzige Debatte in der Mailingliste. Man ist genesen und versteht jetzt, dass das Fieber ein Geschenk war. Es ist vorbei. Monatelang die Lebensgefährten und Freunde genervt mit immer neuen Einfällen, Versuchen, Spielereien - umsonst. Nun plötzlich fällt auf, dass DM 10.000,- für ein Ereignis mit solchen Folgen doch recht wenig waren, Peanuts.
Man hat sich selbst ja viel zu ernst genommen.
Die Zeit nimmt niemanden ernst, auf der Computerseite jedenfalls nicht. Microsoft, Ok, Intel, auch Ok, Dilbert vielleicht.
Wir lesen: "Was kann die Literatur anfangen in einem so bunten, bewegten und technischen Medium wie dem Internet?" Ah, das also meint die Zeit sei das Internet. Aber wer ist die Literatur? Kommt sie zu Wort? Nein. Zu Wort kommen nur die Preisträgerin Susanne Berkenheger ("klassische Hypertextgeschichte") mit dem Halbsatz: "Bei keinem." Und zu Wort kommt Robert Ley, Ex-Häuptling der Deutschen Arbeitsfront, mit dem nicht ganz so knappen Auftritt "Der Führer weiß alles. Er weiß bestimmt auf jedem Gebiet mehr als der Fachmann."
Was also kann die Literatur anfangen? Die Jury spürte dieser Frage nach; leider an einem "drückenden Augustwochenende." So spürte sie der Frage dann doch nicht nach, sondern die passenden Schubladen für die Beiträge auf, in 7 Minuten und 22 Sekunden pro Beitrag oder noch viel weniger, denn 'Pingu und die Flaschenpost' nahm "den Spieltrieb der Jury" doch länger in Anspruch (kein Wunder, beinahe eine Männerjury). Die Schubladen im Einzelnen: 1.) "Allen voran kamen die Eiferer mit langen Manifesten für humanes Sterben, nachhaltiges Wachstum und andere untadelige Zwecke." 2.) "Gleich dahinter die Vielschreiber, die mal eben hundert beliebige Kilobyte digitalisiert haben aus Werken, die zwar literarischer anmuten, aber doch mit den Möglichkeiten des Internet nicht viel zu tun haben - außer dass die Leser per Mausklick zwischen den einzelnen Texten auswählen dürfen." 3.) "Auf der anderen Seite"(!) "die Technikerfraktion mit dreidimensionalen Buchstabenwelten, frei flottierenden Worten, die man mit der Maus anstupsen darf, und wellenschlagenden Überschriften." Diese dritte Schublade hat zwei Halbfächer: a) "Vieles davon ist offenkundig aus den Weiten des World Wide Web zusammenkopiert und nur neu verbunden worden..." b) "vieles aber auch mühsam von Grund auf selbst entworfen..." Das war's? Nein: 4.) "Immerhin einundzwanzig Beiträge ... erachtete die Jury als richtungsweisend."
Nun ist der Kaffee schon kalt, nach 2 Dritteln eines ganz kleinen Artikels. Drei Schubladen Müll, eine mit Richtungsweisendem. Welche Richtung? Nene Nene Nene. Verrät die Zeit nicht. Aber ein Beispiel: "'Verstimmungen', von Kurt Fendt und Zafer Senokac."
Was haben wir falsch gemacht? Was hätte es werden sollen? Die Möglichkeiten des Internet zu nutzen, gab es ja offline nur eine Chance: Geklautes einzubauen, "aus den Weiten des World Wide Web", das wohl das "bunte, bewegte, technische Medium" wie einen jugendlichen Liebhaber zu geben hatte.
Die Jury hat entschieden. "Auf einen eindeutigen Gewinner mochte sie sich allerdings nicht festlegen." Warum? Waren zwei Beiträge in gleicher Weise richtungsweisend? Ein Kopf-an-Kopf-Rennen? Aber... "mochte" - was ist da faul? "Zu sehr schienen ihr" (der Jury) "die technischen Mittel noch über die Textqualität zu dominieren." ???
"Hast du da mitgemacht?" fragt meine Mutter nach der Lektüre besorgt am Telefon. Ja, also ich, aehm... O Übel, nun auch noch Familienschande.
Hamburg, 14.30 Uhr. Kein Kaffee, Sekt. "Betrinken wir uns eben." Ja, ja, kein Wort mehr drüber. Der Rest des Textes stellt die beiden auserkorenen Beiträge kurz vor, begründet vorsichtshalber noch nicht, lobt nur ganz bescheiden am Rande, "so geschickt verwoben" und "simuliert ... auf ironische Weise." Jutta, die korrekturgelesen und getippt hatte, in die typische Frauenrolle hineinmanipuliert, kichert. "Ich weiß, wie die entschieden haben." An einem drückenden Augustwochenende... "Core" und "Zeit für die Bombe", na? "Sagt es." "Sprecht es aus." "Lauter" Na? Stefan muss husten, keiner lacht. Jutta gießt ihr Glas wieder voll. "Na denn", sagt sie. Na denn.
Stefan nimmt die Zeit wieder auf, bändigt aufwendig das unhandliche Format, liest: "ZEIT zum Heiraten? ... Sie schreiben uns Ihren Anzeigentext, errechnen den Betrag und schicken uns Ihren Text zusammen mit einem Verrechnungsscheck oder einer Abbuchungsvollmacht (das ist der schnellste Weg.)" "Machen wir eine Kollage?" Jutta nimmt ihm die Zeit aus der Hand, wirft sie in die Altpapierkiste und holt noch eine Flasche aus dem Kühlschrank. "Die haben's uns aber gegeben," murmelt der Verlierer aus dem Hintergrund, aus dem Off quasi. Der stört sich auch gar nicht daran, dass er beim Sekt wieder übergangen wird.
In Freiburg weint wenigstens keiner. Aber man geht auch zu den Heiratsanzeigen über. "HAM PAR NCE LIS FNC - ...Welche (...) bekommt bei obigen three letter codes u./o., Zeilen Herzklopfen? Frisch gewagt ist halb gewonnen! Zuschriften .... DIE ZEIT..." "Ungebunden" ??? Mit den Möglichkeiten des Internet.
[Hinweis für Erziehungsberechtigte: Dieser Beitrag beinhaltet keine Kritik an der Wettbewerbsjury. Er bezieht sich ausschließlich auf den verächtlichen Ton des Artikels "Ungebunden - Der 2. Internet-Literaturwettbewerb von ZEIT und IBM ist zu Ende gegangen - mit zwei Preisträgern", DIE ZEIT Nr. 35 - 22.August 1997, S. 62. Sollte Ihr Kind an dem o.a. Wettbewerb teilgenommen haben, enthalten Sie ihm diesen Artikel bitte vor. Beachten Sie bitte die Warnung auf der selben Druckseite: "Achtung, Seelenfänger! Sekten, Gurus, Psycho-Freaks." Bestellhotline: Koch@zeit.de. Wenden Sie sich an ein amtskirchliches Sorgentelefon.]
An ML/NL, 1997