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Reinhold Grether
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Der Untergang der Telekom


From: "Dr. Reinhold Grether"
Date: Mon, 7 Apr 1997 08:12:58 -0500
To: webkultur@rzaix52.rrz.un_-_______.de
Subject: Der Untergang der Telekom
Reply-To: webkultur@rzaix52.rrz.un_-_______.de



Im globalen Dorf gibt es keine Ferngespraeche.

Das Ferngespraech war der Popanz der analogen
Telefonie, der unter den fliegenden Haenden
leitungsverstoepselnder Telefonistinnen seine
hoechste Suggestionskraft entfaltete. Mucks-
maeuschenstill sass noch das Kind der Adenauerzeit
im hintersten Winkel, wurde vor der Wandhalterung
ein Ferngespraech zelebriert. Mythos kostet
extra und so war das Ferngespraech, zum Leidwesen
der sich globalisierenden Industrie, die Cash Cow
der Telefonmonopolisten des Wirtschaftswunders.

Der Nomos der Erde, der die Zeitansprueche der
Sesshaften (Eigentumsrechte multiplizieren den
Raum mit der Zeit) und die Raumansprueche der
Nomaden (Geschwindigkeit dividiert den Raum durch
die Zeit) vermittelte, verliert im elektronischen
Schrumpfen der Raum-Zeit an Gesetzeskraft.
Daraus folgt: Raum und Zeit sind als Massstab
digitaler Dienstleistungen nicht geeignet.

Vorbote des Endes des Ferngespraechs sind die
Callback-Provider. Telefoniert ein Telefonkunde
eines tarifhoeheren in ein tarifguenstigeres
Telefongebiet, simuliert der Callback-Provider
gegen eine geringe Arbitrage- und Verrechnungsgebuer
einen Rueckruf, sodass man immer zum guenstigsten
Tarif telefoniert. Das endgueltige Aus des Fern-
gespraechs bringt dann die unmittelbar vor dem
Durchbruch stehende Internet-Telefonie, die jedes
Telefongespraech zum Ortstarif abwickelt.

Dieser Hintergrund erklaert die Tarifentwicklung
der letzten Jahre. Bis Anfang der achtziger Jahre
konnte man im Ortsnetz fuer 20 spaeter 23 Pfennig
unendlich lang telefonieren. Dann tauchten grosse
Plakatwaende auf, die dem verdutzten Betrachter
wortreich erlaeuterten, was sich alles in acht
Minuten sagen laesst. Wer heute einen Monat online
sein moechte, zahlt statt 20 Pfennig 2223 Mark und
36 Pfennig (22 Werktage und 8 Wochenendtage, City-
tarif). Nur eine super-grosse Koalition der Staats-
monopolisten konnte eine solche Preiserhoehung, die
die Telekom vermutlich zum Groessten Wucher-Unter-
nehmen aller Zeiten (GROEWUCHAZ) macht, durchsetzen.
Und obwohl das Netz die besten Voraussetzungen zur
Organisation von Widerstand boete, hat sich die
Gruppe der Hauptbetroffenen, die digitale Klasse,
nicht geruehrt. Offenbar ist das Netz nicht nur, im
Sinne der Rilling-Doktrin, unpolitisch, die digitale
Klasse scheint auch, wozu die Arbeiterklasse im
Verstaendnis Lenins, der den Sozialismus nach dem
Vorbild des Rechtsvorgaengers der Telekom, der
Reichspost, organisierte, immerhin imstande war,
naemlich zur Ausbildung eines trade-unionistischen
interessenbezogenen Bewusstseins unfaehig. Vielleicht
ist man, im Sinne eines Volkskapitalismus, gleich in
die Telekom-Aktien eingestiegen, um dadurch den
Trauerrand der Telefonrechnung ein bisschen aufzuhellen.
Es ist allerdings auch schon mancher Kaese zum Bahnhof
gerollt, ohne seinem Kollegen Auftrieb zu geben.

Theoretisch bemaentelt wird die Tarifpolitik durch die
Price-Cap-Restriktion. Ein Monopolist soll seinen
Gewinn nicht durch Preistreiberei an allen Fronten
maximieren, sondern durch die Optimierung einer
aufgespreizten Tarifstruktur bei ungefaerer Konstanz
der Erloessumme. Und da das Ende des Ferngespraechs
bereits absehbar war, musste das Ortsgespraech als
neue Cash Cow herhalten. Federfuehrend bei der
Entwicklung dieses Arguments waren - mit sprechenden
Namen - Lorenz NETT und Werner NEU im Rahmen des
Forschungsprojekts "Tarifpolitik im Telefondienst"
des think tanks der Telekom "Wissenschaftliches
Institut fuer Kommunikationsdienste", 53604 Bad
Honnef, Rathausplatz 2-4, das den Aufsatz "Effiziente
Telefontarife der Deutschen Telekom im Rahmen einer
Price-Cap-Restriktion" als Diskussionsbeitrag
Nr. 159 veroeffentlichte und auch einen Abstract
(www.wik.org/159.htm) ins Netz stellte.

Nun bildet die Telekom, die sich im Rahmen ihres Daten-
kranzes rational verhaelt und nur durch die Erschuetterung
der Rahmendaten (zu denen z.B. auch das Kundenverhalten
zaehlt) aus dem Gleichgewicht gebracht werden kann,
auf dem Ruecken der Internetentwicklung zunaechst
einmal enorme Rueckstellungen, um ihr bei internatio-
nalen institutionellen Investoren notorisch schlechtes
Ansehen aufzupolieren und den Aktienkurs nach oben zu
treiben. Und doch wird sie sich das Melken ihrer Cash
Cow nicht mehr allzu lange leisten koennen. Denn nicht
nur schrumpft der Fernraum auf Ortsgroesse ein, auch
die Ortszeit geraet in den Bann der Kontraktion. Das
beginnt ganz harmlos bei Offline-Readern und endet bei
billigeren, nicht zeitgebundenen Internet-Zugaengen ueber
Satellit, Kabel und Funk. Die Telekom haengt so gesehen
am Tropf der kurzen Wegstrecke zwischen Wohnungen und
Providern und sobald dieser Weg ersetzt werden kann,
muss man keinen Gedanken mehr an die Telekom verschwenden.
Wie die Industrie ihr mit dem Ferngespraech wegbricht,
so die Privatkundschaft mit dem Ortsgespraech. Die
Telekom geht dadurch unter, dass sie keinen mehr hat,
der mit ihr telefoniert.