Reinhold Grether
an Forum Webkultur
Lob der Liste
From: "Dr. Reinhold Grether" Date: Tue, 18 Mar 1997 08:07:45 +0000 To: webkultur@rzaix52.rrz.un_-_______.de Subject: Lob der Liste Reply-To: webkultur@rzaix52.rrz.un_-_______.de Listen brauchen Platz. Sie organisieren Text in der Flaeche. Man kann sie nicht sprechen. Du wirst sagen: Ich lese Dir den Text vor. Ich antworte: Danke fuer den Text. Sprich jetzt die Liste. Am naechsten kommt der Liste in der gesprochenen Sprache die Aufzaehlung. Auch sie bedient sich der Kolonne. Aber sie ist ein Ablauf in der Zeit. Die Glieder marschieren durchs Bewusstsein und verschwinden. In ihrer Kerngestalt kombiniert die Liste die Prinzipien von Flaeche, Schrift und Spalte. Die Flaeche entfaltet Vertikale und Horizontale simultan, die Schrift belegt die Flaeche mit Zeichen und die Spalte organisiert Zeichenfolgen untereinander. Flaeche, Schrift und Spalte arbeiten optisch zusammen, sodass die Liste mit minimalem Aufwand einen bemerkenswerten Ueberblick erlaubt. Das sind die Vorteile der Liste: Sie bringt eine Vielzahl von Einzelgliedern in einen ueberschaubaren Zusammenhang. Durch das Prinzip der Spalte entsteht eine Reihenfolge, die die Einzelglieder lose koppelt und gleichzeitig ihre Eigenstaendigkeit bewahrt. Die Liste verbindet hohe Organisiertheit mit beeindruckender Weltoffenheit. Mit Leichtigkeit laesst sich ein Item durchstreichen, ueberschreiben, einfuegen und anfuegen. Bezieht man die Horizontale ein, so sind naehere Spezifizierungen jeden Items moeglich. Ueber Mehrspaltigkeit erzeugt die Liste Tabellen. Die Crux der einspaltigen Liste ist ihr Hang zu Substantialismus und Substantivismus. Sie denkt die Welt als Ansammlung von Gegenstaenden. Haette man die Namen aller Dinge in Verzeichnissen und Ordnern parat, so waere die Welt vollstaendig begriffen. Aber die Welt besteht nicht nur aus Gegenstaenden sondern auch aus Beziehungen. An diesem Sachverhalt geht letztlich jede eindimensionale Listenwissenschaft zugrunde. Deshalb bringt man eine Vielzahl von Listen in den Zusammenhang von Tabellen und stellt so die Beziehungen zwischen Gegenstaenden dar. Entfernungstabellen, wie sie Taschenkalendern beigeheftet sind, druecken beispielsweise die Beziehung zwischen Orten in Kilometern aus. Aber auch die mehrdimensionale Tabellenwissenschaft geraet an Grenzen. Zwar werden Vergegenstaendlichungen durch Qualitaeten und Vereinzelungen durch Beziehungen ersetzt, aber das Problem der unzweideutigen Abgrenzung der Qualitaeten untereinander und ihrer eineindeutigen Zuordnung zueinander muendet schliesslich ins Chaos inkompatibler Versionen. Setzt man dieses positiv, entsteht aus der Tabelle das Rhizom. Die Kultur der Liste laesst sich 5000 Jahre zurueckverfolgen. Tatsaechlich erscheinen die aeltesten Schriftzeugnisse, die wir kennen, in Form von Listen. So geht die mesopotamische Schrifterfindung mit der Ausarbeitung einer kompletten Listenwissenschaft einher. Die aeltesten sumerischen Listen sind einspaltige Kolonnen von Goettern, Himmelskoerpern, Koenigen, Omen, Menschenklassen, Orten, Tieren, Produkten und Pflanzen, die spaeteren akkadischen Listen reorganisieren das Material, reichern Erlaeuterungen an und entdecken die zweite, tabellarische Dimension. Bezieht man ein, dass Mesopotamien die Kultur der Sesshaftigkeit zu einer ersten grossen Bluete fuehrt (nach den viel frueheren anatolischen Anfaengen) und gleichzeitig die ersten multizivilisatorischen imperialen Reichsbildungen organisiert, dann lassen sich folgende Spekulationen aufstellen: 1.) Die Liste ist ein Weltentdeckungs-, Weltaneignungs- und Weltverwaltungsformular. 2.) Die Liste ist die Fortschreibung des Nomadismus mit Mitteln der Sesshaftigkeit.