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Reinhold Grether
an Forum Webkultur

Happy Birthday?


From: "Dr. Reinhold Grether"
Date: Fri, 23 May 1997 07:37:40 -0500
To: webkultur
Subject: Happy Birthday?



Liebe Pets and Petticoats,
hier folgt mein gestriger
Geburtstagsgruss, der nun
selber einem Attentat zum
Opfer gefallen ist, Gruss
& Dank, Euer Reinhold G.



                             (leider etwas laenger,
                              lies es, wenn Du ein
                              bisschen Zeit hast)


Theodore John Kaczynski wird heute 55. Soll man
gratulieren?

   (Alles was folgt, bezieht sich auf die Medienfigur
   Kaczynski. Ob die Medienfigur eine "Spiegelwelt"
   (David Gelernter) der Realfigur Kaczynski abgibt,
   entzieht sich meiner Kenntnis.)

Seit 1980 bezeichnet das FBI einen Bombenattentaeter,
der mittels selbstgefertigter, per Post verschickter
oder eigenhaendig plazierter Bomben Repraesentanten
von "UNiversities and Airlines" angreift, als
"Unabomber". Dem am 3. April 1996 als Unabomber
verhafteten Kaczynski werden im Zeitraum vom 26. Mai
1978 und 24. April 1995 16 Anschlaege zur Last gelegt.
Bilanz: 3 Tote und 22 Verletzte. Toedlich verlaufen
die Anschlaege 11, 15 und 16. Am 11. Dezember 1985 stirbt
Hugh Scrutton, der Besitzer eines "computer rental store"
in Sacramento, California. Naechstes Opfer wird am
10. Dezember 1994 in North Caldwell (New Jersey) der
gerade von der "public-relations firm" Burson-Marsteller
zu deren Muttergesellschaft, dem Werberiesen Young &
Rubicam gewechselte Thomas Mosser. Wie sich herausstellt,
nahm der Unabomber irrtuemlicherweise an, Burson-
Marsteller habe Exxons Oeffentlichkeitskampagne im
Anschluss an die Tankerhavarie der Exxon Valdez vor
Alaska gemanagt. Der letzte toedliche Anschlag ereilt
am 24. April 1995 den Leiter der in Sacramento,
California ansaessigen California Forestry Association
Gilbert P. Murray. Adressiert war das todbringende
Paket an dessen Vorgaenger im Amt William Dennison.
Neun der uebrigen 13 Anschlaege gelten High-Tech-
Forschungseinrichtungen von Universitaeten, drei
Luftfahrtunternehmen, einer einem weiteren Computer-
laden (CAAMS Inc. in Salt Lake City, Anschlag 12
vom 20. Februar 1987). An Unterscheidungen zwischen
Repraesentanten, Angestellten, Kunden, Angehoerigen
und Passanten scheint der Unabomber nicht interessiert.
So bedrohen die Luftfahrt-Anschlaege mit Flug 444 der
American Airlines von Chicago's O'Hare International
Airport zum National Airport Washington (Anschlag 3
vom 15. November 1979) ein anonymes Kollektiv von
Flugreisenden, mit Percy Wood von United Airlines
den Geschaeftsfuehrer einer Fluggesellschaft
(Anschlag 4 vom 10. Juni 1980) und mit einem an die
Boeing-Fabrikation in Auburn, Washington adressierten
Paket (Anschlag 9, Juni 1985) jeden Firmenangehoerigen,
der es aufmacht. Eine aehnliche Streubreite zeigt sich
bei den Universitaets-Anschlaegen. Auf technologische
Forschung und Lehre allgemein zielen die unadressiert
im Technological Institute der Northwestern University
(Anschlag 2 vom Mai 1979), im computer-sciences
building der University of Utah (Anschlag 5 vom
Oktober 1981) und im Department of Electrical
Engineering and Computer Science der University of
California, Berkeley (Anschlaege 7 und 8 vom
Independence Day 1982 und 15. Mai 1985) abgestellten
Paketbomben, auf hochrangige Wissenschaftsrepraesen- die
Weite. Es gibt Rueckzuege ohne Wiederkehr, als
Autismus oder going native. Kehrt derselbe zurueck,
der sich zurueckgezogen hat, sprechen wir von Schlaf
oder Tourismus. Alle anderen, die ihre Differenz-
erfahrungen kultivieren, haben bei ihrer Wiederkehr
ein Kommunikationsproblem. Der Mystiker spricht von
unsagbaren Tiefen, der Entdeckungsreisende von
unglaublichen Begegnungen.

Ted Kaczynski war auf dem Karrierepfad eines
akademischen Mathematikers, er studierte 1958 bis
1962 in Harvard, machte dort seinen B.A., ging nach
Ann Arbor, wo er 1964 einen M.A. und 1967 den
Doktorgrad erhielt. Den anschliessenden Zweijahres-
vertrag als Assistenzprofessor in Berkeley kuendigte
er fristlos und ohne Angabe von Gruenden am Tag der
Amtseinfuehrung von Richard Nixon, am 20. Januar 1969.
1971 zog er sich in dieselbe winzige Huette in der Naehe
des Poorman's Creek, abseits der Stemple Pass Road,
fuenf Meilen hinter Lincoln, Montana, zurueck, wo er
25 Jahre spaeter gefasst wird. An seiner Verhaftung
haben die Ermittlungsbehoerden keinen Anteil, auch
nicht die hundertfuenfzig Mann starke Unabomber Task
Force, die am 28. Juni 1993 gebildet wird. Was ihm zum
Verhaengnis wird, ist sein stetig anwachsendes
Mitteilungsbeduerfnis. Er will die Mittel zum Zweck,
seine Bomben, gegen den Zweck, die Revolution gegen
die technische Zivilisation, oder zumindest den Diskurs
darueber, eintauschen. Beim Abbruch der Karriere bleibt
er stumm. Seine technologie- und zivilisationskritischen
Artikel werden nicht beachtet. Er zieht sich zurueck.
Sieben Jahre spaeter die erste Bombe. Ihre Konstruktion
transportiert seine antitechnologische Handschrift. Um
als derselbe erkannt zu werden, hinterlaesst er in
Bombe 4, an Percy Wood, erstmals die Signatur FC, die
als "Fuck Computers" gedeutet wird. Diese Bombe ist
nicht, wie ueblich, in einem eigens angefertigten
Holzgehaeuse, sondern in einem ausgehoehlten Buch,
Sloan Wilson's "Ice Brothers", untergebracht. Damit
sind bereits eine Vielzahl von Sprachen im Spiel, die
Sprache der Zielgebiete, die Sprache der Serie, die
Sprache des Materials und nun auch die Sprache der
Erkennungsmarken. Sechs Tage vor Weihnachten 1985 und
gut eine Woche nach dem ersten toedlichen Anschlag
informieren die Ermittler erstmals die Oeffentlichkeit
und eroeffnen damit ein Kommunikationsterrain, auf dem
der Unabomber triumphieren wird, eine Gloriole der
Verbreitung, die ihn seiner naechsten Naehe kenntlich
werden laesst. Das naechste Kommunikationsereignis
betrifft die Sprache der Augen. Ein doppeltes Sehen:
Sehen und Sehen, dass man gesehen wird. CAAMS Inc.,
der Computerladen in Salt Lake City. 20. Februar 1987,
morgens. Die Sekretaerin schaut aus dem Fenster und
sieht, wie ein Mann ein Paket am Rad ihres Autos
abstellt. Den Ruf nach einer Kollegin hoert der Fremde
und blickt der Sekretaerin in die Augen. Als die Kollegin
kommt, hat er sich schon umgedreht. "Nice butt", witzelt
die Angestellte. Eine Stunde spaeter stolpert der Sohn
der Kollegin, Mitbesitzer des Ladens, ueber das Paket
und wird schwer verletzt. 1993, 15 Jahre nach dem ersten
Anschlag, aeussert sich der Unabomber erstmals in der
Sprache verbaler Mitteilung. In einem am 21. Juni 1993
in Sacramento an die New York Times adressierten Schreiben
kuendigt er ein unmittelbar bevorstehendes Ereignis an,
am naechsten Tag erfolgt der Anschlag auf Epstein, zwei
Tage spaeter der auf Gelernter, identifiziert sich als
FC und eroeffnet mittels einer neunstelligen Zahl einen
direkten Kommunikationskanal zur wichtigsten Zeitung
des Landes. Acht Tage nach dem Mosser-Mord am
10. Dezember 1994 laesst die Times durchblicken, dass
sie an weiteren Mitteilungen des Unabombers interessiert ist.
Am 19. April 1995 wird das Alfred P. Murrah Federal Building
in Oklahoma City durch eine 2,5t-Bombe in die Luft gesprengt.
Die Medien vermuten islam Future", einen langatmigen,
wissenschaftssprachlichen Diskurs, der den technikkritischen
Stereotypen der letzten dreissig Jahre nichts Neues
hinzufuegt. Spaetestens hier muesste sich noch der
wohlwollendste Kommentator mit dem Satz geschlagen geben:
"Dafuer bringt man keinen um."

Teds sieben Jahre juengerer Bruder, der selbst einige Jahre
in der Wildnis gelebt hatte und 1990 mit der Heirat einer
Jugendliebe ins buergerliche Leben zurueckkehrte, studiert,
um aufkeimende Befuerchtungen zu zerstreuen, das Unabomber
Manifesto und geraet nur noch mehr in Bestuerzung. In einem
sehr umsichtigen Verfahren leitet er im Oktober 1995 eine
Serie von Vermittlungsschritten ein, die ein halbes Jahr
spaeter zur unspektakulaeren Verhaftung seines Bruders
fuehren. Der ausgehandelten Bedingung, Ted duerfe nicht zum
Tod verurteilt werden, will sich, juengsten Presseberichten
zufolge, die Chefanklaegerin Janet Reno nicht beugen. Falls
es zum Todesurteil kommt, wird David sich sein Lebtag
quaelen, nicht die private Loesung versucht zu haben. Er
haette, mit entsprechenden Absicherungen, den zumindest
verbal zum Ausstieg entschlossenen Bruder zur Aufgabe seiner
Verbrechen zwingen koennen. Strafrechtlich mitschuldig,
haette er eine einzige weitere Tat, die vielleicht ihm
gegolten haette, riskiert. Waere diese ausgeblieben,
haetten die Opfer, ihre Angehoerigen und die Oeffentlichkeit
auf Genugtuung (und ein Medienspektakel) verzichten muessen.

Lektuere:

1.) Was die Fakten angeht, habe ich mich gestuetzt auf:
Nancy Gibbs et.al., Mad Genius: The Odyssey, Pursuit, and
Capture ot the Unabomber Suspect, New York: Warner 1996.
Dieser Text enthaelt auch das komplette Unabomber Manifesto.
Das Manifest, das Time Warner gleich nach der Printversion
ins Netz brachte, findet sich dort mehrfach, bespielsweise
unter

2.) Mark Dery, dessen Buch "Escape Velocity. Cyberculture
at the End of the Century", New York: Grove 1996, dieses
Fruehjahr unter dem Titel "Cyber. Die Kultur der Zukunft"
im Berliner Verlag Volk&Welt erschienen ist, hat unter dem
Titel "Wild Nature" einen bemerkenswerten Essay veroeffent-
licht, der die gemeinsamen Denkstrukturen von digitaler
Klasse und Unabomber untersucht. Die Netz-URL lautet:
Eine amerikanisch-deutsche Fassung ist nachzulesen in:
Gerfried Stocker und Christine Schoepf (Hg), Memesis: The
Future of Evolution. Ars Electronica 1996, Wien/New York:
Springer 1996, 208-217.

3.) Die Geschichte der fruehindustriellen Technikrevolten
erzaehlt: Kirkpatrick Sale, Rebels Against the Future: The
Luddites and Their War on the Industrial Revolution. Lessons
for the Computer Age, Reading: Addison-Wesley 1995.

4.) Eines der grossartigsten Computerbuecher, die bisher
geschrieben worden sind, stammt von David Gelernter. Es ist
dieses Buch, das Gelernter zum Unabomber-Opfer machte. Ich
hatte es mit grosser Begeisterung gelesen, ohne die
Hintergruende zu kennen, und der dann einsetzende Schock
hat zur Beschaeftigung mit dem Thema und zu diesem Artikel
gefuehrt. David Gelernter, Gespiegelte Welten im Computer
(1991), Muenchen/Wien: Hanser 1996. Das dort erwaehnte Projekt
Linda findet sich im Netz unter:

Den im New York Times Magazine vom 21. Mai 1995 erschienenen
Artikel von Steven Levy "The Unabomber and David Gelernter"
konnte mir die sonst recht flinke Fernleihe auch nach Monaten
und mehrfachen Versuchen nicht beschaffen.
In einem Time-Interview sagte Gelernter:

  "The aspects of my first book, Mirror Worlds, that attracted
  the most attention was the debate between pro-and anti-
  technology alter egos; my skeptical side won."

D.h., Gelernter trug denselben Konflikt vor dem foro interno
aus, den der Unabomber als apokalyptisches Inferno inszenierte.
Diese "Spiegelwelt" zwischen Taeter und Opfer ist ein atem-
beraubendes Emblem zeitgenoessischer Weltkultur.