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Reinhold Grether
an Forum Webkultur

Bildschirmtext & Lesetypographie


From: "Dr. Reinhold Grether"
Date: Fri, 18 Apr 1997 15:47:28 -0500
To: webkultur
Subject: Bildschirmtext&Lesetypographie
Reply-To: webkultur@rzaix52.rrz.un_-_______.de



Der Stuhl ist ein abgesaegter Hochsitz. Mit der
Aussicht auf Wild und Welt ist es nicht mehr weit
her. Umgekehrt ist der Stuhl ein hochgebocktes
Meditationskissen. Er behaelt jedoch zuviel
Bodenhaftung, um der Seele den Absturz in die
Versenkung zu erleichtern.

Einigen wir uns darauf, dass der Stuhl ein bizarres
Kunstprodukt ist und betrachten wir die Leute,
die darauf Platz nehmen. Leiber in ihrer Fuelle
pflanzen sich hin, als wollten sie Wurzeln
schlagen. Desto beweglicher das Bewusstsein,
das Fabelwesen aus den Jagdgruenden der
Abwesenheit herbeizitiert. So unverrueckbar die
Koerper, ihre Repraesentanzen ueberschlagen sich
mit Abseitigem.

Die Gaeste sind fort und noch immer sitzen wir da.
Augenblicke der Besinnung mit Blicken ins Leere.
Du koenntest lesen. Entscheide Dich: Lesen mit
gebeugtem Ruecken - Print, Lesen mit geradem
Ruecken - Bildschirm. Ideologische Verbraemungen
ziehen auf. Printlektuere: Unterwerfung unter einen
auktorialen Diskurs, Bildschirmtext: souveraener
Umgang mit interaktiven Angeboten.

Der passende Sitz fuer den Prothesengott ist der
Rollstuhl. Mit ihm haelt das "vehicle" Kontakt zur
Peripherie. Zum aufrechten Gang hat es nicht ganz
gereicht, dafuer zum aufrechten Sitz.

Verlegen rutscht Dein Koerper auf dem Stuhl herum
und Du begehrst Einlass ins virtuelle Nirvana.
Version 1) Leer ist der Schreibtisch und aufgeschlagen
das Buch. Beuge den Ruecken und lies. Die Welt, die
Dein Bewusstsein durch Interpretation der
Sinnanmutungen erschafft, ist virtuell. Das
alles funktioniert, weil ein in Druckerschwaerze
auf Buchseiten hinterlegter Code die Sinnvorgaben
sequentiell bereitstellt. Version 2) Auf dem
Schreibtisch stehen ein Backofen, ein Waschbrettund
eine Taschenuhr. Mit diesem illustren Arrangement
lassen sich elektronische Schaltungsvorgaenge
aufbauen, abaendern und darstellen. Die technologische
Virtualitaet braucht mehr Platz als die Virtualitaet
des Bewusstseins. Version 3) Auf der gerade laufenden
Hannover-Messe stellt Siemens eine Computer-Studie
vor, die, freu dich, endlich die zyklope Peripherie
virtualisiert. Statt ueber Monitor, Keyboard und Maus
erfolgen Ein- und Ausgabe auf beliebigen Projek-
tionsflaechen, beispielsweise der Schreibtischplatte.
Damit faellt das Unterscheidungsmerkmal von aufrechtem
und gebeugtem Ruecken schon wieder flach.

Zweierlei verdient festgehalten zu werden:
1.) P-Design und E-Design, also die Arbeit am
gedruckten bzw. am elektronischen Text, werden sich
nicht wie zwei Epochen abloesen. P veraendert sich
durch E und E baut auf den Erfahrungen von P.
2.) Es kommt also darauf an, die phaenomenologischen
Unterschiede zwischen E und P herauszuarbeiten und
fuer beide Medien Wege zu finden, wie sie voneinander
lernend ihren Eigensinn entwickeln koennen.

Da wuenscht sich der passionierte E-Designer ein
Handbuch, das den typographischen Lehrschatz des
fuenfhundertjaehrigen Buchzeitalters in sich aufnimmt
und dessen in vielen Generationen gereiftes
Erfahrungswissen klug durchdacht und uebersichtlich
praesentiert weitergibt - als Referenz- und
Resonanzorgan, auf das man sich beziehen und von
dem man sich abstossen kann.

Eine solche retro- und prospektive "LESETYPOGRAPHIE"
liegt seit kurzem von einem Wiedergaenger Gutenbergs,
dem langjaehrigen Lehrer fuer Buchkunst und
Typographie an der FH Mainz, Hans Peter Willberg,
und seinem praktizierenden Schueler Friedrich
Forssman im Mainzer Hermann Schmidt Verlag vor.

 "'Lesetypographie' betrachtet die Typographie
 aus der Sicht dessen, fuer den sie gemacht
 wird, aus der Sicht des Lesers.&q Rezeption
 des bewegten Bildes vergleich-
  bar." (S. 69)

Ueberaus lehrreich ist auch Willbergs "Systematik der
Buchtypographie". Er grenzt sie einerseits ab von
verkehrsleitender Orientierungstypographie, von
blickfangender Werbetypographie, von bahnbrechender
Designtypographie, von fokussierender Zeitungstypographie,
von zerstreuender Magazintypographie, von wohlgefaelliger
Dekorationstypographie und transparenzschaffender
Formulartypographie - und andererseits von kalligraphischen
Buechern, kuenstlerischen Buchobjekten, konkreter Poesie
und experimenteller Typographie, bei denen der Gebrauchs-
charakter des Buches als Lese-Buch nicht im Vordergrund
steht. So modelliert er einen Katalog von acht buch-
typischen Gebrauchs-Lesearten, die jeweils eine unter-
schiedliche Typographie verlangen. Die Typographie fuer
lineares Lesen soll eine ruhige und unaufdringliche
Textoberflaeche bieten und sich ganz hinter die Sache
zurueckziehen. Die Typographie fuer informierendes
Lesen gliedert den Text in leicht ueberschaubare Einheiten,
sodass der Leser rasch die ihn interessierenden
Vertiefungspunkte findet. Die differenzierende Typographie
wissenschaftlicher Buecher braucht gut ausgebaute Schriften,
um gleichgewichtige Begriffe optisch unterscheiden zu
koennen. Die lexikongeeignete Typographie fuer konsul-
tierendes Lesen betont deutlich abgesetzte Ueberschriften.
Die Typographie fuer selektierendes Lesen, beispielsweise
fuer Schulbuecher, bemueht sich um eine klare Trennung
inhaltlich unterschiedener Ebenen. Die Typographie nach
Sinnschritten bindet den Zeilenfall an Sinngruppen, um
Leseanfaenger nicht typographisch zu ueberfordern.
Aktivierende Typographie versucht, zum Lesen zu verfuehren.
Inszenierende Typographie exponiert Textgruppen in theatra-
lischer Weise. Sinn dieser Systematik ist nicht, jede
typographische Aufgabe auf ein Muster zu verpflichten,
sondern den Gestaltungsimpuls zum freien aber begruendeten
Umgang mit dem typographischen Repertoire anzuregen.

Abschliessend will ich an drei weitere Werke von, mit und
ueber Hans Peter Willberg erinnern.
1.) Hans Peter Willberg, Buchkunst im Wandel. Die Entwick-
lung der Buchgestaltung in der Bundesrepublik Deutschland,
Frankfurt: Stiftung Buchkunst 1984.
Ich habe diese Ausstellung seinerzeit in der Frankfurter
Paulskirche gesehen und einer Fuehrung Hans Peter Willbergs
beigewohnt. Ein Schreck fuhr mir durch die Glieder als er
sagte, dass Verlage bald nur noch Disketten fuer Buch-
produktionen akzeptieren.
2.) Hans Peter Willberg, EINEINBANDBAND. Handbuch der
Einbandgestaltung, Mainz: Hermann Schmidt 1988.
Das Gegenstueck zur Lesetypographie.
3.) Alter Hase - neue Leute. 80 ausgezeichnete Buecher von
Hans Peter Willberg - 48 ausgezeichnete Buecher von seinen
Schuelern, Frankfurt: Stiftung Buchkunst 1995.


Besprochen wurde: Hans Peter Willberg / Friedrich Forssman,
Lesetypographie, Mainz: Hermann Schmidt 1997, 168 DM.