Franz Kafka: Tagebuch
28. Februar 1912

 

Am Sonntagmorgen beim Waschen fällt ihm ein, dass er das 'Tagblatt' noch nicht gelesen hat. Er schlägt es auf, zufällig gerade die erste Seite der Unterhaltungsbeilage. Der Titel des ersten Aufsatzes 'Das Kind als Schöpfer' fällt ihm auf, er liest die ersten Zeilen - und fängt vor Freude zu weinen an. Es ist sein Aufsatz, wortwörtlich sein Aufsatz. Es ist also zum ersten Mal etwas gedruckt, er läuft zur Mutter und erzählt es. Die Freude! Die alte Frau, sie ist zuckerkrank und vom Vater geschieden, der übrigens im Recht ist, ist so stolz. Ein Sohn ist ja schon Virtuose, jetzt wird der andere Schriftsteller! Nach der ersten Aufregung überlegt er nun die Sache. Wie ist denn der Aufsatz in die Zeitung gekommen? Ohne seine Zustimmung? Ohne Namen des Verfassers? Ohne dass er Honorar bekommt? Das ist eigentlich ein Vertrauensmissbrauch, ein Betrug. Diese Frau Durège ist doch ein Teufel. Und Frauen haben keine Seele, sagt Mohamet (oft wiederholt). Man kann es sich ja leicht vorstellen, wie es zu dem Plagiat gekommen ist. Da war ein schöner Aufsatz, wo findet man gleich einen solchen. Da ist also Frau D. ins 'Tagblatt' gegangen, hat sich mit einem Redakteur zusammengesetzt, beide überglücklich, und jetzt haben sie die Bearbeitung angefangen. Bearbeitet musste es ja werden, denn erstens durfte man ja das Plagiat nicht auf den ersten Blick erkennen und zweitens war der zweiunddreißig Seiten lange Aufsatz für die Zeitung zu groß.

Auf meine Frage, ob er mir nicht Stellen zeigen wolle, die sich decken, da dieses mich besonders interessieren würde und da ich erst dann ihm einen Rat für sein Verhalten geben kann, fängt er seinen Aufsatz zu lesen an, schlägt eine andere Stelle auf, blättert, ohne zu finden, und sagt schließlich, dass alles abgeschrieben sei. Da stehe zum Beispiel in der Zeitung: Die Seele des Kindes sei ein unbeschriebenes Blatt und "unbeschriebenes Blatt" komme auch in seinem Aufsatz vor. Oder der Ausdruck "benamset" sei auch abgeschrieben, wie käme man sonst auf "benamset". Aber einzelne Stellen kann er nicht vergleichen. Es sei zwar alles abgeschrieben, aber eben vertuscht, in anderer Reihenfolge, gekürzt und mit kleinen fremden Zutaten.

Ich lese laut einige auffallendere Stellen aus der Zeitung. Kommt das im Aufsatz vor? Nein. Das? Nein, ja, aber das sind eben die aufgesetzten Stellen. Im Innern ist alles, alles abgeschrieben. Aber der Beweis wird, fürchte ich, schwer. Er wird es schon beweisen, mit Hilfe eines geschickten Advokaten, dazu sind ja Advokaten da. (Er sieht diesem Beweis wie einer ganz neuen, von dieser Angelegenheit vollständig abgetrennten Aufgabe entgegen und ist stolz darauf, dass er sich ihre Bewältigung zutraut.)

Dass es sein Aufsatz ist, sieht man übrigens schon daraus, dass er in zwei Tagen gedruckt war. Sonst dauert es doch zumindest sechs Wochen, ehe eine angenommene Sache in den Druck kommt. Hier aber war natürlich Eile nötig, damit er nicht dazwischenkomme. Darum haben zwei Tage genügt.

Außerdem heißt der Zeitungsaufsatz 'Das Kind als Schöpfer'. Das hat eine deutliche Beziehung zu ihm und außerdem ist es eine Stichelei. Mit dem "Kind" ist nämlich er gemeint, denn man hat ihn früher für ein "Kind", für "dumm" gehalten (er war es wirklich nur während der Militärzeit, er hat anderthalb Jahre gedient) und man will nun mit dem Titel sagen, dass er, ein Kind, etwas so Gutes wie den Aufsatz zustande gebracht hat, dass er sich also zwar als Schöpfer bewährt hat, gleichzeitig aber dumm und ein Kind geblieben ist, indem er sich hat so betrügen lassen. Mit dem Kind, von dem im ersten Absatz die Rede ist, ist eine Cousine vom Lande gemeint, die gegenwärtig bei seiner Mutter wohnt.

Besonders überzeugend wird aber das Plagiat durch einen Umstand bewiesen, auf den er allerdings erst nach längerer Überlegung gekommen ist: 'Das Kind als Schöpfer' ist auf der ersten Seite der Unterhaltungsbeilage, auf der dritten aber ist eine kleine Geschichte von einer gewissen "Feldstein". Der Name ist offenbar Pseudonym. Nun muss man nicht diese ganze Geschichte lesen, es genügt ein Überfliegen der ersten Zeilen und man weiß sofort, dass hier die Lagerlöf in einer unverschämten Weise nachgeahmt ist. Die ganze Geschichte macht es noch deutlicher. Was bedeutet das? Das bedeutet, dass diese Feldstein oder wie sie heißt, eine Kreatur der Durège ist, dass sie bei ihr die 'Gutsgeschichte' gelesen hat, die er hingebracht hat, dass sie diese Lektüre zum Schreiben dieser Geschichte verwendet hat und dass ihn also beide Frauenzimmer, eine auf der ersten, die andere auf der dritten Seite der Unterhaltungsbeilage, ausnützen. Natürlich kann jeder auch aus eigenem Antrieb die Lagerlöf lesen und nachahmen, aber hier ist doch sein Einfluss zu offenbar. (Er schlägt das eine Blatt öfters hin und her.)

Montag Mittag gleich nach Bankschluss ging er natürlich zu Frau Durège. Sie öffnet nur eine Spalte der Wohnungstüre, sie ist ganz ängstlich: "Aber, Herr Reichmann, warum kommen Sie mittags? Mein Mann schläft. Ich kann Sie jetzt nicht hereinlassen." - "Frau Durège, Sie müssen mich unbedingt hineinlassen. Es handelt sich um eine wichtige Angelegenheit." Sie sieht, ich mache Ernst, und lässt mich ein. Der Mann war ja bestimmt nicht zu Hause. In einem Nebenzimmer sehe ich auf dem Tisch mein Manuskript und mache mir gleich meine Gedanken. "Frau Durège, was haben Sie mit meinem Manuskript gemacht. Sie haben es ohne meine Zustimmung ins 'Tagblatt' gegeben. Wie viel Honorar haben Sie bekommen?" Sie zittert, sie weiß nichts, hat keine Ahnung, wie es in die Zeitung hat kommen können. "J'accuse, Frau Durège", sagte ich, halb scherzend, aber doch so, dass sie meine wahre Stimmung merkt, und dieses "j'accuse, Frau Durège" wiederhole ich die ganze Zeit, während ich dort bin, damit sie es sich merkt, und sage es noch beim Abschied in der Tür mehrere Male. Ihre Angst verstehe ich ja gut. Wenn ich es bekanntmache oder sie klage, ist sie ja unmöglich, muss aus dem 'Frauenfortschritt' heraus usw.

Von ihr gehe ich direkt in die Redaktion des 'Tagblatt' und lasse den Redakteur Löw herausrufen. Er kommt natürlich ganz bleich heraus, kann kaum gehen. Trotzdem will ich nicht gleich auf meine Sache losgehn und ihn auch zuerst prüfen. Ich frage ihn also: "Herr Löw, sind Sie Zionist?" (Denn ich weiß, dass er Zionist war.) "Nein", sagt er. Ich weiß genug, er muss sich also vor mir verstellen. Jetzt frage ich nach dem Aufsatz. Wieder unsicheres Reden. Er weiß nichts, hat mit der Unterhaltungsbeilage nichts zu tun, wird, wenn ich es wünsche, den betreffenden Redakteur holen. "Herr Wittmann, kommen Sie her", ruft er und ist froh, dass er wegkann. Wittmann kommt, wieder ganz bleich. Ich frage: "Sind Sie der Redakteur der Unterhaltungsbeilage?" Er: "Ja." Ich sage nur: "J'accuse" und gehe.

In der Bank läute ich sofort telefonisch die 'Bohemia' an. Ich will ihr die Geschichte zur Veröffentlichung übergeben. Es kommt aber keine rechte Verbindung zustande. Wissen Sie warum? Die Tagblattredaktion ist ja nahe bei der Hauptpost, da können sie vom 'Tagblatt' leicht die Verbindung nach Belieben beherrschen, aufhalten und herstellen. Und tatsächlich höre ich immerfort im Telefon undeutliche Flüsterstimmen, offenbar von Tagblattredakteuren. Sie haben ja ein großes Interesse, diese telefonische Verbindung nicht zuzulassen. Da höre ich (natürlich ganz undeutlich), wie die einen auf das Fräulein einreden, dass sie die Verbindung nicht herstellen soll, während die andern schon mit der 'Bohemia' verbunden sind und sie von der Aufnahme meiner Geschichte abhalten wollen. "Fräulein", schreie ich ins Telefon hinein, "wenn Sie jetzt nicht sofort die Verbindung herstellen, klage ich bei der Postdirektion." Die Kollegen in der Bank lachen ringsherum, wie sie mich so energisch mit dem Telefonfräulein reden hören. Endlich habe ich die Verbindung. "Rufen Sie den Redakteur Kisch. Ich habe für die 'Bohemia' eine äußerst wichtige Meldung. Wenn sie sie nicht nimmt, gebe ich sie sofort einer andern Zeitung. Es ist höchste Zeit." Da aber Kisch nicht dort ist, läute ich ab, ohne etwas zu verraten.

Am Abend gehe ich zur 'Bohemia' und lasse den Redakteur Kisch herausrufen. Ich erzähle ihm die Geschichte, aber er will sie nicht veröffentlichen. "Die 'Bohemia'", sagte er, "kann so etwas nicht machen, das wäre ein Skandal und den können wir nicht wagen, weil wir abhängig sind. Geben Sie es einem Advokaten, das ist das beste."

"Wie ich von der 'Bohemia' kam, habe ich Sie getroffen und frage Sie also um Rat."

"Ich rate Ihnen, die Sache im Guten beizulegen."

"Ich habe mir ja auch gedacht, dass es besser wäre. Sie ist ja eine Frau. Frauen haben keine Seele, sagt Mohamet mit Recht. Zu verzeihen wäre auch menschlicher, goethischer."

"Gewiss. Und dann müssen Sie auch auf den Rezitationsabend nicht verzichten, der doch sonst verloren wäre."

"Was soll ich aber jetzt machen?"

"Sie gehen morgen hin und sagen, dass Sie diesmal noch unbewusste Beeinflussung annehmen wollen."

"Das ist sehr gut. So werde ich es wirklich machen."

"Auf die Rache müssen Sie deshalb noch nicht verzichten. Sie lassen einfach den Aufsatz anderswo drucken und schicken ihn dann der Frau Durège mit einer schönen Widmung."

"Das wird die beste Strafe sein. Ich lasse es im 'Deutschen Abendblatt' drucken. Das nimmt es mir; da habe ich keine Sorge. Ich verlange einfach keine Bezahlung."

Dann reden wir von seinem Schauspielertalent. Ich meine, er sollte sich doch ausbilden lassen. "Ja, da haben Sie recht. Aber wo? Wissen Sie vielleicht, wo man das lernen kann?" Ich sage: "Das ist schwer. Ich kenne mich da nicht aus." Er: "Das macht ja nichts. Ich werde den Kisch fragen. Der ist Journalist und hat da viele Beziehungen. Der wird mir schon gut raten. Ich werde ihn einfach antelefonieren, erspare ihm und mir den Weg und erfahre alles."

"Und mit der Frau Durège machen Sie es so, wie ich es Ihnen geraten habe?"

"Ja, ich habe es nur vergessen, wie haben Sie es mir geraten?" Ich wiederhole meinen Rat.

"Gut, so werde ich es machen." Er geht ins Café Corso, ich nach Hause, mit der Erfahrung, wie erfrischend es ist, mit einem vollkommenen Narren zu reden. Ich habe fast nicht gelacht, sondern war nur ganz aufgeweckt.

Das wehmütige, nur auf den Firmatafeln gebräuchliche "vormals".

 


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