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Yvan Goll

Wassersturz

Wasser und Mensch,
Ihr seid die ewige Bewegung!
Ihr seid der Trieb von allen Trieben: ihr seid der Geist!
Da steht kein Felsen starr und keine Gottheit hoch:
Vor eurem Strahl zersplittern die Blöcke Granit,
Vor eurer Stimme birst das Schweigen des Todes.

O Wasserfall, du Perlentänzer,
Aus deinem steilen, einzigen Wasserstamm
Blühst du Millionen Wasserzweige an die Erde!
Der giftigen Nessel am Straßengraben gibst du dich hin,
Du treibst den grünen Springbrunnen der Palmen empor;
Vergissmeinnicht fröstelt in deinem Tau,
Und der fette Ölbaum saugt dich mit kupfernen Pumpen auf,
Du bist der unendliche Geliebte der Erde!

So will ich, dein unsterblicher Geliebter,
Über die Menschheit strömen und überströmen:
Hinunter, hinunter aus der Einsamkeit
Schäumend von Liebe niederschmelzen,
(An den Gipfeln ermaß ich die Tiefe der Täler)
Zurück zur Menschheit will ich mich ergießen,
Zu den dunklen Schluchten der Besiegten und Geknechteten,
Zu den grauen Wüsten der Streber und Unfruchtbaren,
Zu den endlosen Ebenen der Armen und der Tölpel,
Zu den rauchigen Häfen der Vertriebenen und Gezwungenen --
Hinab, hinab, dem ewigen Trieb muss ich gehorchen,
Wer sich verschenkt, bereichert sich am meisten.
Ich will mit sprudelndem Mund und lachenden Augen
Die große Liebe dieser Nacht vergeuden,
Mich geben und geben, da ich weiß:
Unversiegbar sind die Gletscher der Erde,
Unversiegbar sind die Quellen des Herzens!