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Max Kommerell

Sonne und Mond zugleich

Der Berg des Westens aber hält
In einer blütenweißen Flocke
Die Sonne auf, dass weich sie fällt.
Die Sonne, kaum darin empfangen,
Tritt durch die Flocke, groß und rot;
Und diese ist noch kaum zergangen
In reiner Mitglut, als die Glocke
Des Himmels bis zum Aufgang loht.

Der Berg des Ostens, angeschlagen
Von klingend weichen Lüften, bricht
Sein Schweigen. Rein empor getragen
In den gestillten Raum entsteigt ihm
Der Mond, der volle, dunkelgelbe,
Der staunende. Die Sonne zeigt ihm
Ihr nie gesehenes Gesicht.
Sie schaudern. Denn sie sind dasselbe.

Der Mensch steht auf dem Berg der Mitte.
Bei der Verständigung der Nacht
Ist mit dem Tage er der Dritte,
Den die von einem seltnen Lose
Vereinigten Gestirne weiden.
Er sagt zur Sonne: meine Rose,
Zum Mond: o Lilie! Und lacht,
Im Schlafe wach, und spielt mit beiden.