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Max Kommerell

Das Tier, das es nicht gibt

Stets blickt Lämmchen um die Ecke,
Weiß an Fell, an Schleife blau;
Stets gezwickt am gleichen Flecke
Sagt die Katze stets Miau.
Bilderbücher sind zerfetzt
Und - welch blindes Ungefähr -
Eine Puppe sieht entsetzt
Neben sich im Bett den Bär.
Alle Tiere ist man satt,
Ob aus Stoff, ob bloß gemalt.
Nur ein Buch, im Buch ein Blatt,
Das bis in die Träume strahlt.
Welch ein Tier: es liegt im Schlamm;
Rückenabwärts Dorn um Dorn
Läuft ihm ein gezackter Kamm
Aus durchscheinend grünem Horn
Zum gerollten Stachelschweif.
Wamme schlapp und Raffzahn krumm.
Hals des Drachen! Ja und steif
Steht ein Kranz von Fleisch darum.
Häute zwischen seinen Klaun.
Der Morast ist ja sein Bett!
Doch aus klebrig zähem Braun
Reichen Dolden Violett
An die Nüstern ihm im Spiel
Weichen Windes - spürt es sie?
Und es steht um sein Profil
Solch ein Abendrot, das nie
Draußen ist, und wie es nur
Aus der Farbenschachtel quoll,
Aber nicht aus der Natur.
Flehend, beinah vorwurfsvoll
Sieht es zu dem Mann empor,
Der ein Wams aus Fell hat. Mama
Sagte: "ein Conquistador" -
Vasgo heiße er di Gama...
Auf dies Tier, das es nicht gibt,
Starrt das Kind tagein tagaus,
Furchtsam, aber doch verliebt.
Tritt es morgens aus dem Haus,
Sind ihm Katze, Hund und Pferd,
Äffchen, welches den Rekrut
Tröstet über seine Wunde,
Eselchen am Milch-Gefährt,
Selbst die Schwalbe so, als sei
Es in jedem drin - es tut
Tief in ihren Augen Funde,
Spricht mit Vielen Vielerlei.