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Gertrud Kolmar

Wir Juden

Nur Nacht hört zu. Ich liebe dich, ich liebe dich, mein Volk,
Und will dich ganz mit Armen umschlingen heiß und fest,
So wie ein Weib den Gatten, der am Pranger steht, am Kolk
Die Mutter den geschmähten Sohn nicht einsam sinken lässt.
Und wenn ein Knebel dir im Mund den blutenden Schrei verhält,
Wenn deine zitternden Arme nun grausam eingeschnürt,
So lass mich Ruf, der in den Schacht der Ewigkeiten fällt,
Die Hand mich sein, die aufgereckt an Gottes hohen Himmel rührt.
Denn der Grieche schlug aus Berggestein seine weißen Götter hervor,
Und Rom warf über die Erde einen ehernen Schild,
Mongolische Horden wirbelten aus Asiens Tiefen empor,
Und die Kaiser in Aachen schauten ein südwärts gaukelndes Bild.
Und Deutschland trägt und Frankreich trägt ein Buch und ein blitzendes Schwert,
Und England wandelt auf Meeresschiffen bläulich silbernen Pfad,
Und Russland ward riesiger Schatten mit der Flamme auf seinem Herd.
Und wir, wir sind geworden durch den Galgen und das Rad.
Dies Herzzerspringen, der Todesschweiß, ein tränenloser Blick
Und der ewige Seufzer am Marterpfahl, den heulenden Wind verschlang.
Und die dürre Kralle, die elende Faust, die aus Scheiterhaufen und Strick
Ihre Adern grün wie Vipernbrut dem Würger entgegenrang.
Der greise Bart, in Höllen versengt, von Teufelsgriff zerfetzt,
Verstümmelt Ohr, zerrissene Brau und dunkelnder Augen fliehn:
Ihr! Wenn die bittere Stunde reift, so will ich aufstehn hier und jetzt,
So will ich wie ihr Triumphtor sein, durch das die Qualen ziehn!
Ich will den Arm nicht küssen, den ein strotzendes Zepter schwellt,
Nicht das erzene Knie, den tönernen Fuß des Abgotts harter Zeit;
O könnt ich wie lodernde Fackel in die finstere Wüste der Welt
Meine Stimme heben: Gerechtigkeit! Gerechtigkeit! Gerechtigkeit!
Knöchel. Ihr schleppt doch Ketten, und gefangen klirrt mein Gehn.
Lippen. Ihr seid versiegelt, in glühendes Wachs gesperrt.
Seele. In Käfiggittern einer Schwalbe flatterndes Flehn.
Und ich fühle die Faust, die das weinende Haupt auf den Aschenhügeln mir zerrt.
Nur Nacht hört zu. Ich liebe dich, mein Volk im Plunderkleid.
Wie der heidnischen Erde, Gäas Sohn entkräftet zur Mutter glitt,
So wirf dich zu dem Niederen hin, sei schwach, umarme das Leid,
Bis einst dein müder Wanderschuh auf den Nacken des Starken tritt!