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Nachrufe

Gottfried Kölwel

Gedächtnisrede, gehalten bei der von den "Argonauten"
am 11. April 1930 in München veranstalteten Gedenkfeier.

Es gibt ein Schicksal in der Welt, manche nennen es "Zufall", "Wille Gottes" die einen, die andern: "Gang der Sterne". - Doch, wie man das Wort auch setzen mag, im Grunde ist es dasselbe, was wir alle meinen: Es ist das Dunkle, das keiner noch ergründet hat. Es ist das Unbegreifliche, an dem alles menschliche Denken zerschellt. Wir sehen und fühlen es nur und stehen erschüttert vor diesem Geschehn.

So erging es uns allen, die wir Maria Luise Weissmann näher kannten, als uns die Nachricht von ihrem Tode traf. Wir hatten vor kaum mehr als einer Woche noch mit ihr gesprochen, wir hatten allerlei schöne, aussichtsreiche Dinge für den Winter geplant, und nun war mit einem Mal alles vorbei. Eine köstliche Frucht, mitten im Vorsommer des Lebens sich rundend, war über Nacht reif wie im Herbst, vom Baum gefallen.

Heute, da ich hier stehe und diese Worte spreche, heute, in diesem gleichen Saale, auf denselben Brettern würde nun Maria Luise Weissmann vor Ihnen sein. Sie würden einen überaus sensiblen Menschen, eine fast scheue Frau erkennen, der sicher das Herz zittern würde beim Ausbreiten ihrer Manuskriptblätter; denn sie war von einer blumenhaften Zartheit, die jeden Windhauch spürt, sie war eine Membrane empfindsamster Art, sie trug, ich möchte fast sagen, sichtbar die Flügel des Traums.

Dennoch aber war der Ton, der aus ihrem Munde kam, von einer überzeugten Sicherheit, er war förmlich ein Gleichnis ihrer klar geprägten Persönlichkeit, die sich ihres Wesens und ihrer Bestimmung deutlich bewußt war. Ich sehe heute noch die entschiedene Geste ihres Zustimmens und Ablehnens, jene Sicherheit des in sich ruhenden Geistes, wenn von dem oder jenem die Rede war. Hier will ich auch gleich jenes Gespräches gedenken, das wir, seltsamerweise mitten im hoffnungsvollsten Leben, über den Tod führten. Sie saß still, wie immer, im Sessel und sah mit jenem seltsamen, halb verträumtem, halb außerordentlich wirklichen Blick vor sich hin und sagte: "Ich habe gar keine Furcht vor dem Tode. Wenn es sein müßte, ich wäre jederzeit bereit." -

Ja, es war eine merkwürdige Reife des Lebens in ihr, eine Schau, die über alles Irdische hinausging, ein Gesicht, das sie selbst am Ende ihres "Robinson" deutlich machte; nämlich:

    "Daß Ewigkeit uns nur,
    Verwandelten, ein schmales Teil mag sein:
    Dem ewig Gehenden ewige Spur."

Auf dieser - um mit ihr zu sprechen - ewigen Spur ist Maria Luise Weissmann dahingegangen und hat uns nur ein kleines Werk hinterlassen. Zwar nur ein kleines Werk: drei schmale Gedichtbücher, eine kleine Reihe neuer Gedichte, die zum größten Teil in modernen Anthologien und Almanachen verstreut sind, einige kleine Prosaskizzen und den Anfang einer Novelle - zwar, wie ich sagte, ein kleines Werk, und doch ein Werk, das ungemessen größer ist als sein Umfang. Denn es ist das Werk einer wirklichen Dichterin, eines ebenso innigen Menschen wie eines nach Gestalt strebenden Künstlers.

Schon die Titel allein: Das Frühe Fest - Kakteen - Robinson - führen wie Türen zur Erkenntnis ihres dichterischen Wesens. Es wohnte die Freude zur Feier, zum Außergewöhnlichen, zum Erhabenen ebenso in ihr wie jenes Vertrautsein mit den geheimnisvollen, phantastischen Gebilden der Natur und das ursprüngliche, lebendige Dasein des Menschen auf der Erde. (Im "Robinson"). Gerade dieses Problem "Mensch", der mit seinen Füßen in der einsamen Wildnis steht, (wie sie sagt: auf diesem "Leib aus Erde, Wasser, Salz, Gestein", auf dem es kein Verweilen gibt) - hat sie, wie jeden Dichter mit Gewalt bewegt.

Trotzdem scheint mir ihre eigentliche Bedeutung noch mehr in jenen Gedichten zu liegen, die so ganz aus dem Herzen entsprungen sind. Denn obgleich von subtilster, oft mimosenhafter Art, zerfließt nichts in Schleier und Traumdunst, sondern die kleinen Gebilde stehen da, ebenso naiv wie wunderhaft. Sie sieht alles deutlich, intensiv, bis ins Kleinste, wie ein waches Kind es sieht, das von selbst, aus sich heraus, die Umwelt beschaut.

Ein ganz bezeichnendes Beispiel hiefür scheint mir das "Gebet der Kindheit" zu sein, in dem sie sagt:

    Es ist ein schwarzer Hund bei Nacht, Herr Jesus,
    Der auf seinen Krallen die hölzerne Stiege abwärtsgeht.
    Es ist ein weißer Schatten manchesmal, Herr Jesus,
    Der früh am Wegrand an der Weide steht.

Das Kind hat dem Heiland eine Blume gesät, die immer höher aufragt in seinem Schein. Hirte will das Kind ihm sein, will mit ihm zusammen die Lämmer weiden, und sagt in einer rührenden Einfalt zum Schlusse:

    Die Küken sind ausgekrochen, aber dem einen fehlt ein Bein.
    Die Mutter sagte vor deiner Kerze: Alle Flammen
    Münden zu deiner großen Sonne ein.

Oder man beachte ihr Sehen und Schauen in dem Gedicht von den Katzen:

    Sie sind sehr kühl und biegsam, wenn sie schreiten,
    Und ihre Leiber fließen sanft entlang,
    Wenn sie die blumenhaften Füße breiten,
    Schmiegt sich die Erde ihrem runden Gang.

Auch an das Gedicht vom "Einsiedler" möchte ich hier noch erinnern, der seit Jahren nicht mehr gesät hat, der die Ernte ungemäht läßt, dessen Pferd sich in der Weide verlor, der auch die letzte Last vergißt, dem die Gräser über die Knie empor, immer höher entgegenwachsen, langsam, bis durch die Hand:

    Er ward wie ein Sieb ohne Außen und Innen.
    Gleichmäßig und ganz ohne Widerstand
    Konnten die Jahre durch ihn rinnen.

Es gäbe noch manche solche Beispiele, aber ich glaube, es genügt, um deutlich zu machen, was ein Gedicht von Maria Luise Weissmann ist. Das Gedicht ist, wie es bei jedem echten Lyriker der Fall ist, sie selbst; denn sie ist das innige, betende Kind, sie ist der mit der Natur verbundene Mensch, dem auch das Tier kein Geheimnis bleibt, sie ist der Weise, der nichts festhalten will. Ganz hingegeben ist sie an das große, namenlose Geschehen, voll unmittelbarer Schau der Erscheinungen, und es kommt einem wahrhaftig vor, als wäre es mehr als bloß ein Zufall, daß sie ihr letztes Gedicht "Abend im Frühherbst" nennt. "Abend im Frühherbst" ... und es, kurz vor ihrem Tode, also schließt:

    Es ist der letzte dieser kurzen Tage,
    All Ding steht reif und rund und unbewegt,
    Schwebend in sich gebannt wie eine Wage,
    Die Tod und Leben gleichgewichtig trägt.