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Wilhelm Waiblinger

Hymne

Es webt und waltet
Ueber den Wassern,
Ueber der Erde,
Ein unergründbarer,
Kaum geahnter,
Ewiger Geist
In Ruhe.

Ihn lobt die Blume,
Die zarte auf dem Hügel,
Ihn die Quelle, die klare,
Und kennt ihn nicht.

Ihn lobt der Mensch,
Der wunderbare
Aus der Umarmung
Des Ewigen und Endlichen
Entquoll'ne Sohn.
Lobt ihn im wallenden Licht
Der Morgensonne
Im bleichen Dämmern
Der stillen Mondnacht;
Im weichen Wehen
Bebender, flüsternder Blätter,
In allem Wogen, Drängen und Schwellen
Der ewigen Natur,
Seiner Tochter,
Lobet und erkennt ihn.

Er erkennt ihn, glaubt ihn
In seiner Fülle, seiner Ruhe,
Den durch sich selbst lebenden,
Ueber dem All ruhenden,
Alten, wandellosen Geist!

Und er beugt sein Haupt,
Das stolze, zum Himmel ragende,
Flicht um die Schläfe sich
Die tiefe zarte Demuth,
Die sinnige Viole,
Die ihn krönet.

Aber kühner blickt er auf,
Den Ew'gen in der Brust gewahrend.
Ihn trägt die Kraft,
Die gottentstammte,
Hinan zu ihm,
Wie eine Morgenwolke.
Er aber ruhet,
Der ewige Vater,
Der alles trägt,
Allliebend.
Nieder auf die Erde
Ströhmt sein Segen,
Reich wie seine Sonne;
Denn er liebt sie!
Hält die sein Entwöhnte
An den Vaterbusen
Mit allem,
Was auf ihr ist.

Ewig ruht er,
Der alte Vater,
Der alles trägt,
Allliebend.

Unten aber auf der Erde
Haust Zerstörung;
Da begegnen sich,
Blindwirtend,
Feindliche Kräfte,
Was in die Luft sich thürmte,
Fest und sicher,
Dem Ew'gen trotzend,
Das stürzet donnernd
Der Riesenarm der Zeit zu Boden,
Und um die grauen moos'gen Trümmer
Den alten, ungeformten Schutt,
Wandelt, wie ein Fremdling,
Der späte Enkel.

Hinaufgestoßen, hinabgestoßen,
In schwankender Bewegung,
Auf wiegender Woge,
Treibet das Lebensschiff;
Wellen und Winde
Fassen und heben und drehen und wirbeln
Endlos durch Strudel, an Buchten vorüber,
Weit in die Ferne das Irrende.

Alle Werke,
Die der Mensch schuf,
Sind nicht ewig.

Einst goß
Auf der Länder eines
Seiner ewigen Schöne
Unendliche Fülle
Der Herr.

Da regten Menschenhände
Allwirksam sich,
Und schufen, bauten, formten, thürmten,
Ohne Rast.
Lagen am Mutterbusen,
Die Schönen,
Deiner Natur!
Und vermaßen sich
Die Kühnen, stark zu seyn,
Allmächtiger,
Wie du!

O daß sie wären
Noch die alten
Götterfreunde!
Noch des Vaters
Busenkinder!
Weine, Seele,
Ueber sie!

Denn sie alle
Liegen in der Erde.
Ueber ihren Gräbern,
Wallt traurig flüsternd,
Wie ein schüchterner Geist,
Der Abendwind
Durch Lorbeerblätter,
Und der müde
Wanderer ruht,
Sinnend auf den Säulentrümmern,
Den alten, moosumwobnen,
Ueber den Gräbern;
Und du nah'st ihm,
Wie ein lächelnder Engel,
Holde Vergangenheit,
Und wie ein weinender,
Bittere Zukunft!

Hört ihr's beben?
Schrecken faßt
Alles!
Hohl dröhnt die alte
Mütterliche Erde,
Wankend in den Fugen:
Wolkenschauer
Decken den Mond,
Vorüberwandelnd:
Aufwallt das Meer,
Der starren Felswand kahle Rippen
Mit Schaum und Woge schlagend;
Furchtbar saust
Der heulende Windstoß
Durch geschüttelte, rauschende Wälder,
Und knarrend, mit gebroch'nem Aste,
Stürzt ausgewirbelt,
Hinab in jähes Felsgeklüfte,
Hinab!
Der schwarzen Eiche Riesenkrone!
Sturm und Wind faßt
Ast und Blätter,
Fels und Wogen:
Alles springt laut-
Donnernd von der
Alten Höhe,
Stürzt zerschmetternd;
Stimmen jammern,
Toben, seufzen,
Kräfte rasen,
Sich zermalmend,
Mann an Mann drängt
Sich zusammen,
Faßt sich tobend,
Mordet, mordet!
Qualm und Rauch und Flamm' und Staub,
Waffen und Eisen, Arm und Arm.
Und aus der Erde
Steigt ein Riese,
Berge reißend
Aus Grund und Wurzel,
Ueber den Nacken
Fliegende Haare schüttelnd,
Seine Stimme
Durch Wald und Thal,
Wie Donner, sendend,
Alle Wesen
Auf der Erde
Zertretend ohn' Erbarmen.

Und aus den Wettern
Hallt die Stimme:
Zittert, Menschen,
Zittert vor der Zwietracht Geist!
Und aus den Gräbern,
Steigen auf die Geister
Der Väter,
Finstere, große Gestalten,
Lange Schatten;
Wie Meeresbrausen
Donnert ihr Gesang:

Fleucht den Riesen!
Noch sind eure Berge,
Wie einst!
Noch sind eure Wasser,
Eure Thäler,
Wie einst!
Nur die Söhne der Berge,
Die Söhne der Thäler
Sind nicht
Wie einst!
Es wird der Mensch nur,
Was er soll,
Durch eig'ne Kraft!

Wirbelt hinan
Eure Geister
Zu ihrem Urquell,
Zu ihm,
Der webt und waltet,
Ueber den Wassern,
Ueber der Erde,
Ueber allem Bewegten.
Ein unergründbarer,
Kaum geahnter,
Ewiger Geist.

Das kann der Mensch nur,
Wenn er frey ist!
Werdet, Enkel,
Wie wir!

Auf der Erde
Herrscht ewiger Wechsel:
Ueber dem Wechselnden
Steht der Mensch,
Der Bleibende:
Denn so will's
Der ewige Vater,
Der alles trägt,
Allliebend.